Haben die Reifen endgültig die Macht über die Formel 1 übernommen? Diese Frage stellt sich nach dem turbulenten WM-Auftakt 2013 in Australien und dem Sieg von Lotus-Fahrer Kimi Räikkönen in Melbourne. Allen Millionen-Investitionen in Technik und Aerodynamik zum Trotz werden die Rennen offenbar mehr denn je vom schwarzen Gummi entschieden. Nicht allen gefällt das.

Bei Teams wird erste Kritik laut

2011 war Bridgestone von Pirelli als Reifen-Alleinausstatter der Formel 1 abgelöst worden, dieses Jahr läuft der Vertrag der Italiener ab. Im dritten Jahr tun die Mailänder aber alles, um die von der Motorsport-Weltbehörde (FIA) gewünschte Spannung noch mehr zu erhöhen. Was Fans und Zuseher vermutlich gefällt, ruft bei den Millionen in die Aerodynamik investierenden Top-Teams aber auch Kritiker auf den Plan.

Ex-Pilot und Ex-Teamchef Gerhard Berger hatte schon vor dem Saisonstart die Sinnhaftigkeit der Reifen-Strategie bezweifelt. In Australien kamen auch bei Bergers erstmals am Mercedes-Kommandostand sitzenden Landsmann Toto Wolff Bedenken auf.

"Wenn der Anspruch war, das Ganze noch unvorhersehbarer zu machen, dann ist es ihnen gelungen", sagte der neue Motorsportdirektor der Silberpfeile. "Es denken sehr viele schlaue Leute sehr viel über Aerodynamik nach. Und dann spielt der Reifen so eine dominante Rolle. Das ist nicht ganz richtig", hatte auch der 41-jährige Wiener Bedenken.

Pirelli war schon im Vorjahr hauptverantwortlich dafür gewesen, dass die ersten sieben Saisonrennen sieben verschiedene Sieger gebracht hatten. Auf dieses Jahr hin hatte man die Reifen trotzdem nochmals verfeinert, den Gummi noch weicher und die Unterschiede zwischen den einzelnen Mischungen noch größer gemacht. Um die Show "aufzupeppen", wie es Pirellis Motorsportchef Paul Hembery ausdrückte.

Auch Weltmeister Red Bull "leidet" vorerst unter dieser Situation. Auf einer Einzelrunde sind die Österreicher dank Adrian Neweys Aerodynamik mit dem RB9 weiter die Schnellsten, im Rennen wird der Speed aus dem Qualifying aber schon nach wenigen Runden bedeutungslos.

Qualifying mit untergeordneter Rolle?

"Wir hatten keine Chance, das Tempo von Räikkönen mitzugehen", gab Motorsportdirektor Helmut Marko zu. Wolffs erste Erkenntnis lautete: "Es sieht aus, als ob man mit diesen Reifen mehr für das Rennen am Sonntag als für die Startaufstellung am Samstag arbeiten muss."

Der Wiener kann sich vorstellen, dass die Qualifikation künftig bisweilen sogar eine untergeordnete Rolle spielt. Zumindest auf Strecken, wo man wie in Melbourne überholen kann, wie es dem von Platz sieben gestarteten Räikkönen problemlos gelungen war. Es muss laut Wolff aber mehr gewesen sein als nur die eiskalte Fahrweise des "Iceman". "An einen Wunderwuzzi-Faktor glaube ich nicht", sagte Wolff. "Mit diesen Reifen wird das Qualifying bisweilen sekundär werden."

Die Irritationen beim Saisonstart dürften unter den Teams jedenfalls gewaltig gewesen sein. Wolff sprach sogar von einem "Herumgeeiere". "Unser Option(-Reifen) ist zunächst eingebrochen, dann wieder besser geworden. Beim Prime war es genau umgekehrt. Der Pole-Mann Vettel wird nur Dritter, der als Siebenter gestartete Räikkönen gewinnt. Selbst bei Lotus war der zweite Fahrer nirgends. Da gibt es jetzt extrem viel zu analysieren und zu verstehen", fürchtete Wolff.

Genau das aber war die Absicht von Pirelli. Nämlich durch zusätzliche Boxenstopps und taktische Fahrweise das Spannungselement in der Formel 1 zu erhöhen. Hembery sprach von einer "bewusst mutigen Entscheidung", für Melbourne die Supersoft-Reifen auszuwählen, und sah sich durch den spannenden Rennverlauf bestätigt.

"Sieben Piloten haben zwischenzeitlich geführt. Lotus und Kimi haben die Reifen perfekt verstanden. Das war ganz sicher die Meisterklasse des Reifenmanagements", lobte Hembery und fügte hinzu: "Räikkönen ist im vorletzten Umlauf mit 22 Runden alten Reifen Bestzeit gefahren. Wir sind also mit der Performance zufrieden."

Rätsel vor Hitze-GP in Malaysia

Für die Teams blieben nur wenige Tage, die Wunden zu lecken und Fragen zu beantworten. Schon am kommenden Freitag steht das erste Training für den nächsten Grand Prix in Malaysia auf dem Programm. Pirelli schickt dort wegen der extremen Umstände - Hitze und monsunartiger Regen - erstmals auch den härtesten Reifen ins Rennen.

In Sepang werden die Teams also erstmals bei heißem Wetter in die "Reifen-Wundertüte" blicken. Ganz alleine sind sie dabei nicht. Jeder Rennstall hat nicht nur seine eigenen Reifenspezialisten, sondern auch einen von Pirelli abgestellten Spezialisten zur Verfügung.

Die in Australien ausgesprochene Hembery-Einladung nach Mailand zur "Nachhilfe" wird es also nicht brauchen. "Außerdem waren wir schon dort", betonte Wolff.

Dem Österreicher war aber klar: "In Malaysia wird wieder alles anders. Aber zuerst müssen wir verstehen, was in Australien passiert ist." Vielleicht aber, so Wolff, werde man ohnehin nie alles komplett verstehen. "Im Halbspaß gesagt: Vielleicht sollte man hin und wieder einfach das Gefühl einsetzen."