Ein 25 Jahre alter Chevrolet versperrt die Autobahnauffahrt. Auf der Straße ersetzen Fußballfans heute die Autos. Es ist drückend heiß, der wenige Wind macht das Warten zwar ertragbarer, dennoch: Die Aussicht, Messi plus WM-Trophäe zu Gesicht zu bekommen, macht jede Unbequemlichkeit wett. Die Menschen kommen vorbereitet. Im Gepäck sind neben Argentinien-Flaggen und Tröten auch Kühltaschen, Campingstühle und Sonnenschirme. Getrunken wird aus Plastikpokalen, jeder strahlt mit der Sonne um die Wette. Als Unterhaltung dienen Fußbälle, und wenn man die nicht hat, kickt man eben mit leeren Plastikflaschen. Militärflugzeuge donnern ganz nah über die Köpfe der sogenannten "Hinchas". Argentinien feiert den Triumph, mit allem, was es hat, und wie es hier den Anschein macht, geordnet. Nicht so an anderer Stelle.

Die Ankunft

Endlich. 36 lange Jahre lang hat das ganze Land auf diesen Moment gewartet. Doch nun sind sie da, die Weltmeister. In den sehr frühen Dienstagmorgenstunden landen die Spieler am internationalen Flughafen Ezeiza, ein bisschen außerhalb von Buenos Aires. Mit ihrer Ankunft bricht aber auch das große Chaos über den Großteil der Stadt herein. Es war ein erwartetes: Die Zeit zwischen dem gewonnenen Elfmeterschießen bis hierhin hatte bereits gezeigt, wozu die Fans imstande sind. Dass die Ankunft der Mannschaft gerade deshalb in Frustration endet, ist doppelt bitter. Es scheint, alle Vorbereitungen in Sachen Sicherheit waren der Euphorie nicht gewachsen.

Kurzfristig wurde der Dienstag zum nationalen Feiertag erklärt, damit jeder die Möglichkeit hätte, der Mannschaft zu gratulieren. Schon in den Nachtstunden pilgern abertausende Fans zum Flughafen. Die Folge: Nichts geht mehr, auf der Autobahn stadtauswärts. Das änderte sich auch nicht mehr, denn entlang der Straße sollte später am Tag der Umzug der Spieler stattfinden. "Sollte", aber dazu später mehr. Für Touristen und andere Leute, die einen Flug zu erwischen hatten, heißt das aber "bitte aussteigen". Viele werden so weit gebracht wie es geht, den Rest müssen sie mit Sack und Pack zu Fuß bestreiten. Manche haben das Glück, von der Polizei abgeholt und die restliche Strecke chauffiert zu werden.

Währenddessen bereitet sich die Mannschaft in der Zentrale des argentinischen Fußballverbandes auf ihre große Party vor. Um 12 Uhr Ortszeit setzt sich der offene Doppeldeckerbus schließlich in Bewegung. Zu diesem Zeitpunkt befinden sich bereits fünf Millionen Menschen auf den Straßen und Plätzen entlang der kommunizierten Route. Das Epizentrum der Feierlichkeiten von Sonntag, die Zone um den Obelisken, ist bereits so verstopft, dass die erste Planänderung erfolgt, und der Obelisk von der WM-Umzugs-Tour gestrichen wird. Der Stimmung der Weltmeister tut dies wahrlich keinen Abbruch. Bilder zeigen Messi & Co. ausgelassen feiernd – in der einen Hand der Pokal, in der anderen ein Fernet-Cola, ein typisch argentinischer Longdrink.

Helikopter-Evakuierung

Zurück am Schauplatz der gesperrten Autobahn, weiter stadteinwärts, macht sich nach Stunden des Wartens Nervosität breit. Der Bus hätte schon längst vorbeikommen sollen. Das Internetnetz bricht immer wieder zusammen, es werden Verwandte angerufen, sie mögen doch bitte den Fernseher einschalten und Auskunft darüber geben, wo sich denn der Umzug aktuell befindet. Die Nachrichten vom anderen Ende der Leitung sind absurd: Der Bus bewege sich mit nur zwei Kilometer pro Stunde vorwärts, ein Fan sei auf den Obelisken geklettert, zwei andere versuchten von einer Brücke in den unten durchfahrenden Mannschaftsbus zu springen – einer mit Erfolg, der andere stürzte vom Dach. An anderer Stelle gebe es bereits einen Todesfall. Das Resultat? Eine Routenänderung folgt auf die nächste, niemand weiß mehr, wo man die Weltmeistermannschaft erwischen kann.  



In die Verwirrung mischt sich folgendes Gerücht: Die Spieler sollen vom Bus evakuiert und der Umzug per Helikopter fortgesetzt werden. Doch wieder fehlen eine offizielle Ansage und klare Informationen. Werden sie im Zentrum landen? Wenn ja, wo wird man sie sehen können? Doch viel Zeit zum Ärgern und Nachdenken bleibt nicht. Gefühlte fünf Minuten, nachdem die Hubschrauber-News durchdrungen hatten, tauchen auch schon drei Exemplare am Horizont auf. Das sind sie, das sind Argentiniens Helden! Wegen denen an diesem vorweihnachtlichen Dienstag Feiertag ist, wegen denen Menschen von nah und fern nach Buenos Aires angereist sind, wegen denen fünf Millionen Fußballfans in der brütenden Hitze ausharren und wegen denen das Land seit drei Tagen Kopf steht.

30 Sekunden für die Ewigkeit

Die Helis sind noch kleine Punkte am Himmel als tosender Jubel ausbricht. Sofort werden Bengalos gezündet, Fahnen geschwenkt, Handys zum Filmen in die Luft gestreckt. Ein Handgelenk ziert ein frisch gestochenes Tattoo, um das noch Frischhaltefolie gewickelt ist. Obwohl es sehr klein ist, sind die beiden Zahlen unverkennbar: "10". In 30 Sekunden ist das Spektakel auch schon wieder vorbei, dennoch liegen sich Menschen im Arm und weinen. So nah kam man Messi noch nie. Aus dem Nichts bahnen sich plötzlich Autos und Motorräder ihren Weg durch die Menschenmassen, den Helikoptern hinterher. Jeder, der Platz hat – im Kofferraum oder auf dem Dach – wird aufgesammelt. Gibt es keinen, sprintet man eben.

Doch die Hoffnung, die Spieler noch zu Gesicht zu bekommen, zerschlägt sich nur kurz darauf. Man werde mit den Helikoptern nicht landen, lediglich ein paar Kreise über der Stadt ziehen, twittert der Verband. Er macht die Sicherheitskräfte verantwortlich. Fazit: Sie haben das erwartete Chaos nicht auf einen akzeptablen Grad reduzieren können.  

Und so haben die allermeisten vergeblich gewartet, die Lebenschance verpasst, Messi einmal live zu sehen – noch dazu, wie er die so begehrte Trophäe küsst. Auch der Fahrer des alten Chevrolets löst gerade die Absperrbänder von seinem Auto, als sich viele lange Gesichter am Heimweg darunter hinwegducken. Es hätte einer der schönsten Tage in ihrem Leben werden sollen. Doch die Realität konnte den Erwartungen nicht gerecht werden.