Natürlich sei es eine sehr gute Leistung gewesen, die schwierigste Vorrundengruppe auf Platz eins abzuschließen. „Aber ich bin trotzdem ein Fan davon zu sagen, dass es im Fußball immer besser geht“, findet Konrad Laimer. Der Bayern-Profi verkörpert das im Nationalteam vorherrschende Denken, das auch im Erfolgsfall kein Zurücklehnen vorsieht. Immer wieder werden sie zumindest in Nebensätzen angedeutet, die „ganz großen Ziele“, wegen derer man die Mission in Deutschland angetreten habe. Das Achtelfinale fällt eher unter die Kategorie Minimalziel.
Gegen die Türkei heißt es daher, die bisherigen Erfolgsfaktoren nach Möglichkeit zu konservieren und in einigen Bereichen, in denen man definitiv nicht am Limit ist, nachzuschärfen. Starten wir mit dem, was bisher zu gefallen wusste:
Ein Team müsst ihr sein: Seit Wochen und Monaten kürt Teamchef Ralf Rangnick zu Erfolgskriterium Nummer eins, dass Österreich das im übertragenen Sinn beste Team der EM stellen müsse. Geht es nach dem Teamgeist, rangieren „The Burschen“ im bisherigen Turnierverlauf fraglos im Spitzenfeld. Damit haben sie ihr Land begeistert.
Surfen auf der Euphoriewelle: Besagte Begeisterung sorgt für immens wichtige Rückendeckung. Selbstverständlich registrieren die ÖFB-Spieler, was zu Hause los ist. Die Bilder vor Ort, wie die Einheit aus Mannschaft und Publikum zu „I am from Austria“ feierte, sorgten ohnehin für Gänsehaut. Auch in Leipzig ist zu erwarten, dass Gegner Türkei das Fan-Duell quantitativ gewinnt. Das taten zuletzt auch Polen und die Niederlande. Qualitativ müssen sich die ÖFB-Anhänger nicht verstecken. Plus: Ob der Leipzig-Connection diverser ÖFB-Akteure hoffen Rangnick und Co auf viele neutrale Daumendrücker.
Rückschläge verkraften: Diese Stärke hängt ebenfalls ursächlich mit dem Teamgeist zusammen. Wie das ÖFB-Team die Ausgleichstreffer gegen Polen und Holland wegsteckte und einfach weitermachte, kann man nicht genug loben. Auch gegen die Türkei kann im Spielverlauf etwas schiefgehen. Das Wissen, zurückschlagen zu können, hilft.
Auf los geht’s los! In sechs von sieben Länderspielen 2024 hat Österreich in den ersten zehn Minuten ein Tor erzielt. Der gegen die Slowakei aufgestellte Weltrekord wird Christoph Baumgartner möglicherweise länger nicht zu nehmen sein. „Mit ‚Baumi‘ haben wir einen richtigen Anstoßspezialisten“, unterstreicht Laimer. Baumgartner wiederum erläutert: „In erster Linie geht es darum, von Beginn an energetisch zu sein.“
Hohes Energielevel: Diese Frühstarts stehen stellvertretend für das intensive Spiel des Nationalteams, das sich mit freiem Auge von der gemächlichen Herangehensweise von manch anderem EM-Teilnehmer unterscheiden lässt. Vielleicht hat Italien auch deshalb schon Ciao gesagt. Kombiniert man dies mit dem in Fleisch und Blut übergegangenen Spielstil, verwundert es nicht, dass Österreich eher mit einer Klubmannschaft als mit einem Nationalteam verglichen wird.
Die Breite des Kaders: Wie Rangnick bisher die Tiefe seines Aufgebots nutzt, wurde schon oft genug skizziert. Dies wird auch gegen die Türkei und im Idealfall darüber hinaus notwendig sein. Je näher jeder Spieler seinem Limit kommt, desto besser.
Effizienz: Man kann nicht behaupten, dass Österreich bisher gnadenlos effizient agiert, aber einen gewissen Hang zu Toren in den richtigen Momenten konnte man in den letzten beiden Partien erkennen. Den wird es weiter brauchen.
Disziplin: Acht ÖFB-Kicker sind gelbvorbelastet. Elf Türken wurden alleine gegen Tschechien verwarnt. „Die Türkei wird versuchen, Emotionen ins Spiel zu bringen“, glaubt Rangnick, „wir brauchen auf dem Platz heiße Herzen, aber in jeder Situation auch einen kühlen Kopf.“ Nicolas Seiwald ergänzt: „Auch wenn der Puls hoch ist, muss die Birne klar sein.“
„Unser“ Fußball: Floskeln können nerven, aber nicht diese. Vor allem, wenn sie gelebt wird. Inzwischen spricht sich auch international herum, wofür Österreichs Fußball steht. Bringt das Nationalteam „seinen“ Fußball auf den Platz, ist es tatsächlich für jeden Gegner unangenehm.
Ergebnisorientiertheit: Österreich stand bei der EM früh unter Druck, lieferte jedoch die notwendigen Ergebnisse. Ab sofort steht das Resultat noch mehr über allem. Seiwald plakativ: „Ohne Sieg können wir nicht weiterspielen und das Turnier gewinnen.“
Fußball-Österreich bittet um mehr von diesen positiven Aspekten. Es bleibt jedoch auch nach dem Niederlande-Match dabei, dass Österreich nicht kollektiv überperformt. Es ist immer gut, noch Luft nach oben zu haben. Oder frei nach Laimer: Besser geht immer. Einige Beispiele:
Höchste Zeit für ein Zu-Null-Spiel: Die Rechnung ist eine denkbar simple: Kassiert man in einer K.o.-Phase in der regulären Spielzeit kein Gegentor, erreicht man mindestens schon mal das Elfmeterschießen. Dies ist natürlich nicht das primäre Ziel, sondern ein Rettungsanker. Es wäre kein Fehler, wenn Österreich wieder mal ein zu Null einstreuen würde. In den vergangenen sechs Länderspielen setzte es zumindest einen Gegentreffer.
Standards: Im bisherigen Turnierverlauf versicherten ÖFB-Betreuer schon mehrmals, dass man an dieser Thematik arbeitet. Noch fehlen die Früchte dieser Arbeit. Offensiv klappte es bisher auch so. Aber die ÖFB-Elf könnte aus Eckbällen oder Freistößen fraglos mehr Gefahr erzeugen.
Individuelles Steigerungspotenzial: Beim Thema Luft nach oben ist es gut zu wissen, dass es Spieler gibt, die noch nicht wie erhofft im Turnier angekommen sind. Nur als Beispiel: Michael Gregoritsch war einer der Schlüsselspieler der Qualifikation. Wie sehr er dem Team helfen kann, muss man nicht diskutieren. Gelingt es, ihn in einen Lauf zu bringen, wäre es ein nächster Schritt. Noch im März gelang dem Steirer beim 6:1 gegen die Türkei ein Hattrick.
Kein Selbstläufer: Dieser Punkt ist weniger für die Mannschaft gedacht, deren Fokus hoch erscheint, sondern mehr für die Öffentlichkeit. Auch wenn Österreich vor drei Monaten einen Kantersieg gegen den Achtelfinal-Kontrahenten gefeiert hat, ist dies noch nicht gleichbedeutend mit dem Sprung ins Viertelfinale. „In diesem Spiel ist alles in unsere Richtung gelaufen, davon lassen wir uns nicht blenden“, verspricht Florian Grillitsch. Die Türkei sinnt auf Revanche. Doch auch Laimer verspricht dem Anlass angemessene Leidenschaft: „Es ist ein Euro-Achtelfinale. Es ist ganz normal, dass jeder von uns bis in die Fingerspitzen brennt.“