Es wird ÖFB-Fans geben, die unter einem „Finale“ in Berlin eine andere Vorstellung hatten. Ganz überraschend kommt es angesichts des Auftakt-Gegners Frankreich jedoch nicht, dass vor den beiden Auftritten in der deutschen Hauptstadt gegen Polen und die Niederlande Endspiel-Feeling aufkommt. Das Motto am Freitag im ersten „Heimspiel“ gegen Polen: Verlieren verboten! Bei einer Niederlage sowie einem Remis im Parallelspiel zwischen Frankreich und den Niederlanden würde das Ausscheiden Österreichs feststehen.

Negativszenarien wie dieses gehören der Vollständigkeit halber erwähnt, spielen im Denken von Ralf Rangnick jedoch bekanntlich nicht einmal eine Nebenrolle. „Auch nachdem wir die schwerste Gruppe zugelost bekommen haben, haben wir gesagt, dass wir unbedingt weiterkommen wollen. Dass du dann irgendwann auch mal Spiele gewinnen musst, ist ja vollkommen klar. Es ist keine Situation, in der wir sagen: ‚Oh, jetzt müssen wir plötzlich Spiele gewinnen.‘ Das war von Anfang an klar“, unterstreicht der Teamchef, der von einem Match mit „Play-off-Charakter“ spricht.

Spielweise nicht auf Unentschieden ausgerichtet

Angesichts der Bedeutung eines Turniers ist klar, dass Rangnicks bislang so erfolgreiche Ära am Prüfstand steht. Das ist auf Nationalmannschaftsebene nun mal so. Ein Totalschaden ist dringend zu vermeiden, dafür soll am Pickerl für die K.o.-Phase gebastelt werden. Dabei hilft laut ÖFB-Chefcoach kein Taktieren. Seine Devise: Ein Sieg muss her. Auch bei einem Unentschieden bliebe Österreich fix im Turnier. Doch selbst bei einem ausgeglichenen Spielstand in der 80. Minute spielt dieses Szenario in seiner Gedankenwelt keine Rolle. „Unsere Spielweise ist nicht darauf ausgerichtet, Unentschieden zu spielen, auch in der 80. Minute nicht“, stellt Rangnick klar, für den die Vorteile rein theoretischer Natur bleiben. „Polen müsste dann gegen Frankreich gewinnen und wir gegen Holland. Das ist auch nicht unbedingt eine Situation, die man haben möchte. Deswegen werden wir natürlich auf Sieg spielen. Ich gehe davon aus, dass der polnische Teamchef seiner Mannschaft dasselbe sagen wird.“

Aus dem polnischen Lager sind selbstbewusste Töne zu hören. Lens-Spieler Przemyslaw Frankowski analysierte, dass Polen „einen stärkeren Kader als Österreich“ habe, wenn man sich die Spielernamen und deren Klubs anschaut. „Die Wahrheit liegt auf dem Platz. Wir werden sehen, ob das so ist“, schmunzelt Rangnick vor dem Kräftemessen zwischen dem 25. (Österreich) und 26. (Polen) der FIFA-Weltrangliste. Im ÖFB-Lager geht man fest davon aus, dass der zuletzt angeschlagene Superstar Robert Lewandowski einsatzfähig sein wird. „Wir müssen das Spiel in jeder Phase nach unseren Richtlinien spielen und kontrollieren. Dann kommt er gar nicht so oft in Situationen, in denen er gefährlich werden kann“, betont Rangnick, der den Kontrahenten in einem 5-3-2-System erwartet.

Bezüglich der eigenen personellen Überlegungen gibt sich der 65-Jährige zugeknöpft und verrät lediglich, dass alle Kadermitglieder einsatzbereit sind. Gegen Frankreich bot Rangnick zum ersten Mal in seiner Amtszeit eine reine Legionärs-Startelf auf. Sollte nicht Sturm-Kicker Alexander Prass auf der linken Abwehrseite den Vorzug gegenüber Phillipp Mwene bekommen, ist auch diesmal Bundesliga-Beteiligung in der Anfangsformation unwahrscheinlich. Oft kolportierte Vermutungen punkto Umstellungen: Gernot Trauner sowie Patrick Wimmer oder Romano Schmid spielen für Maximilian Wöber und Florian Grillitsch von Beginn an. Bleibt Grillitsch tatsächlich auf der Bank, ist die Frage, ob Konrad Laimer oder Marcel Sabitzer die zentrale Rolle an der Seite von Nicolas Seiwald bekleiden.

Es braucht mehr Spielfreude

Gelöst wird das Aufstellungsrätsel wie gewohnt 90 Minuten vor dem Anpfiff. Unabhängig davon, wer spielt, erwartet Rangnick neben den üblichen defensiven Tugenden eine offensive Steigerung: „Wir brauchen eine gute Mischung aus aggressivem und kompaktem Spiel, aber auch eine gewisse Freude am Spiel. Diese Spielfreude ist notwendig, um Torchancen rauszuspielen und Tore zu schießen.“ Lässt sich dieses Vorhaben in die Tat umsetzen, könnte man auch einen entscheidenden Trumpf zücken, nämlich den Support von den Rängen. „Wir müssen dazu beitragen, dass wir mit unseren eigenen Fans Doppelpass spielen“, fordert Rangnick. Gelingt dies, könnte das vermeintliche Schicksalsspiel mit einem rot-weiß-roten Fußballfest enden.