Österreich hat einen neuen Teamchef - einen Schweizer, der von Größen wie Herbert Prohaska nicht gerade herzlich empfangen worden ist. Ist Marcel Koller der richtige Mann zur richtigen Zeit?
ROLAND GORIUPP: Ich glaube, dass er ein guter Mann ist, der akribische Arbeit leisten wird. Leider hat die Teamchef-Bestellung zu lange gedauert. Das war unprofessionell, dadurch sind von Anfang an negative Meinungen aufgekommen. Mich stört es, dass die Teamchef-Diskussion in der Öffentlichkeit so respektlos abgelaufen ist und einige ein Statement abgegeben haben, bevor Koller seine Arbeit aufgenommen hat.

Ist Koller der "gemütlichere" Kandidat für den ÖFB, der möglicherweise nicht das Standing hat, gravierende Strukturveränderungen im Verband durchzusetzen?
GORIUPP: Ich traue ihm zu, dass er gute Arbeit macht und sukzessive auch seine eigenen Ideen einbringen wird, was für den österreichischen Fußball durchaus gut sein kann. Leider wird das oft nicht von heute auf morgen mit guten Ergebnissen belohnt. Ich glaube, dass sich der ÖFB schlussendlich über die gravierenderen Strukturänderungen, die Franco Foda mitgebracht hätte, doch noch nicht drübergetraut hat.

Sportdirektor Willi Ruttensteiner hat eine Spielphilosophie angekündigt, die vom Nachwuchs bis ins A-Team durchgezogen werden soll. Die Schweiz hat das bereits vor 20 Jahren gemacht. Sind das leere Worthülsen oder findet beim ÖFB tatsächlich ein Umdenken statt?
GORIUPP: Ich glaube schon, dass etwas passieren wird. Willi Ruttensteiner wird schon länger so ein Konzept in der Schublade haben. Das dürfte nun auch von ganz oben mitgetragen werden. Und es ist vielleicht 20 Jahre später als in der Schweiz, aber es kann nie zu spät sein.

Im Zuge der Teamchef-Debatte ist immer wieder auch die ÖFB-Trainerausbildung kritisiert worden. Hast du den Eindruck, dass ehemalige Spieler bevorzugt werden?
GORIUPP: Bevorzugt würde ich nicht sagen. Aber natürlich gibt es Leute, die so viel für ihr Land getan haben, dass man sie auf alle Fälle einbinden sollte – wenn sie die anderen fachlichen Qualifikationen ebenfalls mitbringen. Bei Andi Herzog bin ich überzeugt, dass er mittel- oder langfristig Teamchef werden wird.

Du warst Spieler, bist Trainer und außerdem als Coach in der Wirtschaft tätig: Ist ein guter Spieler automatisch auch ein guter Trainer?
GORIUPP: Ganz sicher nicht, aber es schließt sich auch nicht aus. Der Spieler- und der Trainerjob sind nicht miteinander vergleichbar. Wenn jemand als Spieler selber Erfahrungen gemacht hat, ist es glaubwürdiger und einfacher, das als Trainer zu vermitteln. Das ist aber nur ein Teil der Traineraufgabe.

Ehrenamtlichkeit ist in Österreichs Verbänden und Profi-Klubs noch weit verbreitet. Sind die Strukturen im ÖFB noch zeitgemäß?
GORIUPP: In den Strukturapparat des ÖFB habe ich zu wenig Einblick. Ich glaube schon, dass im sportlichen Bereich sehr gut gearbeitet wird. Aber es fällt natürlich auf, dass gewisse Personalien seit Jahren unverändert sind und unterschiedliche Ämter immer wieder von denselben Leuten bekleidet werden.

Eine Art von Kontinuität gab's früher bei den Nationalteam-Tormännern. Ob Konsel oder Wohlfahrt, in den 90er-Jahren war der Teamgoalie immer eine Bank. In den vergangenen Jahren war es einmal Payer, einmal Macho, einmal Manninger, einmal Gratzei, usw. Hat Österreich ein Tormannproblem?
GORIUPP (überlegt): Das muss man differenziert sehen. Wir haben sehr gute österreichische Torhüter, die in der heimischen Bundesliga spielen. Wir haben aber nicht mehr diese Generation, die die Persönlichkeit und die internationale Erfahrung mitbringt, um auf Nationalteamebene dauerhaft als klare Nummer eins gesetzt zu sein.

Woran liegt das?
GORIUPP: Ich habe als junger Spieler mit 17 Jahren in der Bundesliga die Chance bekommen, da sich der Stammgoalie verletzt hat. Alex Manninger hat beim GAK im Europacup die Chance bekommen, da Franz Almer ausgefallen ist. Das ist heute anders. Unter dem zunehmenden wirtschaftlichen Druck sichern sich die Klubs mittlerweile mit zwei routinierten Tormännern ab. Sturm hat zum Beispiel Christian Gratzei und Silvije Cavlina. Der junge österreichische Goalie ist meistens nur noch die Nummer drei und muss auf doppeltes Verletzungspech hoffen. Er wird als Systemerhalter gebraucht und wenn er zwei, drei Jahre nicht spielt, wird nicht mehr auf ihn gesetzt, da er zu wenig Spielpraxis hat.

Du bist im Sommer im Testspiel gegen die Slowakei im A-Team für Tormanntrainer Franz Wohlfahrt eingesprungen, hast also direkten Einblick. Wer ist für dich die Nr. 1 im Team?
GORIUPP: Momentan haben wir das Pech, dass Christian Gratzei verletzt ist. Er hat sich für mich in den vergangenen zwei Jahren als klare Nummer eins hervorgetan. Ein Pascal Grünwald ist derzeit zurecht im Tor, da er mit Tirol die moderne, offensive Spielweise des Tormannes in die Bundesliga gebracht und sehr gute Leistungen gezeigt hat. Diese jahrelange Nummer eins, die wir früher hatten, ist für mich momentan nicht ersichtlich. Ein Wohlfahrt oder ein Konrad wären nach einem Spiel wie dem 2:6 gegen Deutschland z.B. ganz sicher nicht aus dem Tor genommen worden, wie es Christian Gratzei widerfahren ist.

Stichwort Christian Gratzei. Wie war die Arbeit als interimistischer Tormanntrainer bei Sturm in den vergangenen Wochen?
GORIUPP: Es war schön und spannend, zu Sturm zurückzukehren, da ich ja selber fünf Jahre beim Verein gespielt habe. Christian Gratzei ist bei Sturm die klare Nummer eins. Er hat die beste Beinarbeit in Österreich, er ist immer ausbalanciert und kommt aus seiner Grundposition mit einer sehr guten Reaktion an die Bälle heran. Silvije Cavlina hat aber in den letzten Wochen auch gezeigt, dass er ein absolut verlässlicher Goalie ist.

Christian Gratzei ist mit 186 cm nicht unbedingt ein Riese. Wie relevant ist die Größe eines Tormannes wirklich?
GORIUPP: Die Größe ist für diee Leistungsstärke eines Tormannes nicht wichtig. Aber ich merke, dass die Größe beim Marktwert des Spielers sehr wohl eine Rolle spielt. Ein sehr guter Tormann mit einem großen Körperbau kann international anders verkauft werden als ein kleinerer.

Du betreibst die Steirische Tormannakademie und bist U18-Teamtormanntrainer. Was macht einen Spitzengoalie von heute aus?
GORIUPP: Ein Tormann wird immer noch daran gemessen, wie viele halt- und unhaltbare Bälle er hält und welche Kapitalfehler er macht. Das alleine reicht heute aber nicht mehr. Auch im Offensivspiel – dem Passspiel oder dem Ausschuss – brauche ich ein gewisses Niveau, muss beidbeinig und ballsicher sein. Ein Tormann mit meiner fußballtechnischen Qualität hätte heute nicht mehr das Zeug für die Bundesliga. Nur mit einem Fuß ausschießen zu können, ist heute zu wenig. (lacht)

Wer erfüllt diese Anforderungen international derzeit am besten?
GORIUPP: Das ist mit Abstand Bayern-Goalie Manuel Neuer, der das moderne Tormannspiel par excellence verkörpert. Er ist in diese Vorbildrolle geschlüpft, die ein Oliver Kahn hinterlassen hat.

Ist ein Manuel Neuer auch in Österreich in Aussicht?
GORIUPP: Die U18 ist eine ganz starke Generation, auch im Goalie-Bereich. Alle vier Torhüter, die im erweiterten Kader stehen, haben großes Potenzial, zwei davon sammeln ihre Erfahrungen bereits im Ausland. Aber nicht die Technik, nicht die Taktik, nicht die Kondition wird entscheiden, sondern der Kopf. Es ist also schwer zu prognostizieren, ob eine neue langjährige Nummer eins fürs ÖFB-Team dabei ist.