Zwei persönliche Triumphe bei dieser Europameisterschaft sind Mert Müldür nicht mehr zu nehmen. Beim türkischen Sieg gegen Georgien gelang ihm ein Traumtor, das ist wichtig. Eher weniger wichtig, aber fürs eigene Ego bestimmt schmeichelhaft: Eine KI kürte den 25-Jährigen zum attraktivsten Spieler des Turniers. Bestplatzierter Österreicher? Flavius Daniliuc auf Platz fünf.
Wenn er gewollt hätte, hätte Müldür den Sieg in dieser Klatschspalten-Wertung nach Österreich holen können. Geboren und aufgewachsen in Wien, fußballerisch ausgebildet und sozialisiert bei Rapid, trifft Müldür mit der Türkei auf jenes Land, in dem er die ersten 20 Jahre seines Lebens verbracht hat.
Als wäre ein EM-Achtelfinale nicht schon aufregend genug, ist das Kräftemessen mit Österreich naturgemäß kein Spiel wie jedes andere. „Natürlich ist es für mich ein besonderes Match“, erklärt Müldür in Leipzig am Abend vor dem Spiel, „ich bin in Österreich aufgewachsen, bin zur Schule gegangen, habe Fußball spielen gelernt, natürlich herrscht eine Verbindung zu Österreich.“ Es ist naheliegend, dass diese Verbindungen in den vergangenen Tagen intensiviert wurden: „Viele Freunde aus Wien und Österreich haben sich gemeldet, viele werden auch im Stadion sein. Ich freue mich auf dieses Spiel.“
Für Rapid debütierte Müldür im Mai 2018 im Alter von 19 Jahren in der Bundesliga. Fünf Monate später verhalf ihm der damalige Teamchef Mircea Lucescu bereits zu A-Team-Ehren. Der Abwehrspieler hatte zuvor schon die Junioren-Auswahlen der Türkei durchlaufen. Es ist nicht so, dass es der ÖFB nicht probiert hätte. Doch er kam zu spät.
Sportdirektor Peter Schöttel traf sich einst in einem Kaffeehaus in Wien-Hitzing mit dem damaligen Talent und dessen Berater Max Hagmayr. Die Überredungsversuche scheiterten: „Er hat gesagt, dass er lieber für die Türkei spielen will. Das ist zu akzeptieren.“ Hagmayr wiederum berichtet, dass Müldür in der Türkei mehr Wertschätzung erfahren habe. Mit einigen Jahren Abstand erläutert der Verteidiger: „Ich habe in der U17 erstmals für die Türkei gespielt, wurde dann ins A-Team berufen. Dann hast du keine andere Option als Ja zu sagen.“
Schöttel spricht von einer „sehr, sehr guten Entwicklung“ des Wieners in den vergangenen Jahren. Dieser Expertise kann man nicht widersprechen. Nach 29 Bundesliga-Spielen für Rapid nahm Müldür im Sommer 2019 die Herausforderung Serie A in Angriff. Der Wechsel zu Sassuolo machte sich lange bezahlt, ehe ihn ein Knöchelbruch beinahe die komplette Saison 2022/23 kostete. Es folgte der Wechsel nach Istanbul, wo er mit Fenerbahce Vizemeister wurde.
Aus dem früheren Innenverteidiger ist längst ein Rechtsverteidiger geworden, für den das Gefühl, gegen Österreich zu spielen, kein Neuland mehr ist. Beim 1:6-Debakel der Türken im März spielte er im Happel-Stadion durch. Das ÖFB-Team sei im Kollektiv sehr stark: „Einzelnen Spieler möchte ich keinen rauspicken. Österreich kennt seine Stärken und Schwächen sehr gut, ist immer mit 100 Prozent dabei, gibt immer Vollgas.“ Diesmal soll dennoch alles anders werden als beim 1:6. „Wir sind sehr ehrgeizig. Wir wollen Revanche nehmen für dieses Spiel.“ Es wäre gleichzeitig der nächste persönliche Triumph bei dieser EM. Ein denkbar wichtiger.