Vor neun Jahren war die Welt noch halbwegs in Ordnung. Die Euro 2012 in Polen und der Ukraine mit dem Finale in Kiew war ein Fußballfest. Polen präsentierte sich als weltoffenes Land und zog die unruhige Ukraine im Windsog mit, wenn auch die Zusammenarbeit zwischen beiden Ausrichtern kaum funktionierte und eine Reihe von Skandalen im Zusammenhang mit der Vorbereitung aufgedeckt wurden. Tatsächlich mieden viele Fans die Spiele in der Ukraine, weil Berichte über Korruption, Rassismus und Xenophobie, überhöhte Hotelpreise sowie ein politischer Boykott nach dem Fall Timoschenko viele Europäer abschreckten. Die Ukraine wurde damals als zweites großes Enfant Terrible Europas neben Weißrussland wahrgenommen. Die Orangene Revolution 2004 hat den Prozess der Demokratisierung zwar beschleunigt, war aber zur EM ins Stocken geraten. Der Massenprotest des Euromaidan gegen den prorussischen Präsidenten, sowie die Konflikte mit dem Nachbarland folgten und wirbelten auch die Fußballwelt völlig durcheinander. Viele Fußballanhänger hatten sich am Euromaidan beteiligt. Die Probleme spalten seither das Nationalteam und die Fans.

Der blutige Konflikt 2014 hatte Auswirkungen auf die Meisterschaft, ein Teil der Ligamannschaften stammte aus der Ostukraine. Meister Schachtjor Donezk und drei weitere Klubs mussten wegen des Bürgerkrieges umziehen. Auch Sorja Luhansk floh vor den prorussischen Separatisten aus der „Volksrepublik“ und trug seine Spiele fernab der Heimat in Lemberg und Saporischschja aus. Dnipro Dnjepropetrowsk zog in die Hauptstadt um, bevor 2019 das Geld ausging, weil der Oligarch Ihor Kolomojskyj sein Interesse verlor – nur vier Jahre nach dem Europa-League-Finale. Der Erfolgsklub Metalist Charkiw verschwand noch früher gänzlich vom Spielplan, löste sich 2016 nach 90 Jahren Geschichte auf, nachdem sich sein Besitzer, der Oligarch Serhij Kurtschenko, nach Russland abgesetzt hatte. Charkiw wurde stattdessen zum Exil für Schachtar Donezk, dem erfolgreichsten Verein der Ostukraine, der ebenfalls erst in Lemberg spielte. Insgesamt haben sich rund 20 Teams wegen akuter Geldnöte aus dem Profisport verabschiedet, nicht nur aus dem Osten der Ukraine. Der Krieg hat dem ganzen Land wirtschaftlich zugesetzt, auch den Oligarchen und damit den Klubs.

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Die EM 2016, als ein Großteil der Nationalmannschaft aus den östlichen Oblasten des Landes stammte, das Finale der Champions League 2018 in Kiew und auch die Erfolge von ukrainischen Vereinen in der Champions und Europa League rücken die fußballerische Zerrissenheit des Landes ins internationale Schlaglicht. Die Identität hat sich verändert. So erzählen Fans aus Luhansk, die prowestlich orientiert sind und die Stadt nach dem Krieg verlassen haben, dass sie sich jetzt erst recht mit ihrem Klub identifizieren, auch wenn er die Stadt verlassen hat. Er sei zu einem Symbol für lokalen Patriotismus gewachsen. Über solche Besonderheiten tauschen sich Fans aus der Ukraine in regelmäßige Abständen auf Veranstaltungen mit europäischen Gleichgesinnten aus. Allerdings wandelte sich zum Teil das Verhältnis der Fans im Krieg. Die Sicht übereinander wandelte sich, sogar die bis dato extrem aufgeheizten Stimmung hat sich in den vergangenen Jahren verändert. Es ist friedlicher geworden – wenigstens im Stadion. Ein prägendes Ereignis war dabei auch der Euromaidan, als rechte Hooligans von Dynamo Kiew und linke Ultras von Arsenal Kiew gemeinsam Protestler vor den Regierungstruppen schützten.

Auch aktuell ist der Konflikt megapräsent. Teamchef Andrij Schewtschenko setzt in seinem 26-Mann-Kader auf 17 Spieler von Kiew und Donezk. Ein Erfolg bei der EM wird an der Zerrissenheit nur wenig ändern.