Herr Trapattoni, wer ist für Sie der WM-Favorit?

GIOVANNI TRAPATTONI: Die Situation ist nicht so klar wie bei den letzten Großereignissen. Die Favoriten sind nicht im richtigen WM-Rhythmus. Am Anfang hatten alle Brasilien auf der Rechnung. Mannschaften wie Italien zum Beispiel oder Brasilien müssen besser werden. Derzeit ist am ehesten noch Spanien herausragend. Das Problem ist, dass bei den Top-Teams viele Schlüsselspieler müde eingetroffen sind. Brasilien hat seine Stars in Spanien, die die ganze Saison auch international gespielt haben. Das gleiche gilt für die Franzosen, deren Spieler in Italien tätig sind. Die müssen alle zuerst den richtigen Rhythmus finden.

Christoph Daum hat die WM als größte Fachmesse für Fußballtrainer beschrieben. Haben Sie schon irgendwelche neuen Systeme erkannt?

TRAPATTONI: Nein, der Fußball ist heutzutage ausgeglichener denn je. Die Afrikaner haben zum Beispiel viele Spieler, die in Europa tätig sind, da vermischt sich alles. Man muss sich etwas Neues einfallen lassen für die Zukunft, vielleicht zehn gegen zehn zu spielen.

Ist das die revolutionäre Idee?

TRAPATTONI: Man hat das ja schon ausprobiert und wir haben in diesen Spielen mit zehn gegen zehn gesehen, dass der Fußball besser ist. Das Problem ist, dass mit dem aggressiven Pressing, das heute gespielt wird, es kaum mehr freie Räume gibt und es somit auch weniger Platz für schöne Aktionen. Wir Trainer müssen uns auch fragen, was wir dazu beitragen können, welche neue Regeln wir entwickeln können. Und mit weniger Spielern auf dem Feld könnten wir dem Fußball eine neue Attraktivität geben. Es ist schade, wenn die weltbesten Spieler ihre Genialität heute nicht mehr zeigen können, nur weil einfach kein Raum dazu da ist. Italien hat beim letzten Spiel nach einem Ausschluss auch mit zehn Mann gespielt, sogar gegen nur neun Amerikaner. Ein schönes Spiel war das aber nicht. Das war ein anderes Problem. In diesem Moment war Italien unter dem Druck, gewinnen zu müssen. Sie haben nicht die richtigen Räume gefunden, um gegen die USA anzukommen.

Man spricht viel von Taktik. Wie wichtig ist es überhaupt eine Mannschaft auf ein bestimmtes System einzustellen?

TRAPATTONI: Auf taktischer Ebene kennen heute alle Top-Spieler alle Systeme. Da gibt es keine Überraschungen mehr. Bei einem Großereignis wie der WM ist es wichtiger, dass die Spieler eine gute Kondition haben. Das haben wir zuletzt bei der Europameisterschaft gesehen, als die Griechen den Titel holten. Die waren gegenüber den großen Teams mit den großen Spielern, die ausgebrannt waren, einfach besser drauf. Aber der Unterschied wird auch von der Qualität der Spieler bestimmt.