Die Fußball-Welt bewegt momentan der tragische Tod des deutschen Nationalgoalies Robert Enke, der jahrelang mit schweren Depressionen kämpfte. Wie weit verbreitet sind Depressionen im Leistungssport?
ALOIS KOGLER: Depressionen im Hochleistungssport sind meiner Meinung nach nicht stärker verbreitet als in der Durchschnittsbevölkerung. Es gibt dazu aber leider relativ wenige Studien. Alle Menschen haben genau definierte Ziele – vor allem Leistungssportler. Bei einer Depression gehen diese Ziele verloren. Einerseits kann der Leistungssport ein Schutz sein, andererseits sind die Belastungen auch extrem hoch. Und dann zerbröselt dieser Schutz.

Sind Profisportler heutzutage eher gefährdet, psychisch zu erkranken?
KOGLER: Tatsache ist, dass die Lockerheit, die es z.B. zu Franz Klammers Zeiten gab, im heutigen Profisport überhaupt nicht mehr möglich ist. Heute sind Sportler viel früher auf Höchstleistungen fokussiert. Der Leistungsdruck wird immer größer, die Depressionsgefahr steigt.

Seit 2003 war Enke in psychiatrischer Behandlung - jene Zeit, in der Enke beim FC Barcelona nicht zum Zug kam und zu Besiktas Istanbul verliehen wurde. Dort löste er nach nur einem Spiel seinen Vertrag, nachdem er von den Fans angefeindet wurde. Könnte das der Auslöser für die Depression gewesen sein?
KOGLER: Es ist denkbar, dass damals für Enke die Möglichkeit verloren gegangen ist, seine Ziele zu erreichen. Zwei Jahre, in denen man kaum spielt, sind eine verdammt lange Zeit. Wenn da die Ziele verloren gehen, kann sich eine Depression entwickeln und der Lebenssinn früher oder später verloren gehen – vor allem, wenn man keine dicke Haut hat und sozial isoliert ist.

Im Jahr 2006 starb Enkes zweijährige Tochter. Welche Rolle haben Ihrer Meinung persönliche Rückschläge wie diese gespielt, dass sich Enke schlussendlich das Leben genommen hat?
KOGLER: Eine Depression ist üblicherweise ein Zusammenspiel mehrerer Faktoren: zum einen die Karriere und familiäre Probleme, zum anderen die Grundkrankheit. Es können kleine Misserfolge im Training sein oder eine Situation, in der sich jemand über einen lustig macht. Meistens ist nicht ein Thema, wie z.B. die Frage, ob man bei der WM die Nummer eins ist oder nicht, sondern eine kleine persönliche Kränkung der Auslöser.

Themen wie z.B. Homosexualität oder im konkreten Fall Depressionen scheinen im Leistungssport noch immer tabu zu sein. Ist es für einen Profisportler, der im Rampenlicht steht, überhaupt möglich, sich öffentlich zu outen?
KOGLER: Ein Spitzensportler oder ein Nationaltorhüter muss ein Vorbild sein. Für Enke wäre es völlig unmöglich gewesen, in die Öffentlichkeit zu gehen. Viele hätten gesagt: "Ein Depressiver kann ja nicht unser WM-Torhüter sein". Die mediale Welle wäre übergeschwappt. In dieser Zwickmühle ist es verdammt schwer: Als Nationaltorhüter muss man leistungsstark sein. Die Verteidiger vor ihm müssen ihm vertrauen können. Jemandem zu vertrauen, von dem man weiß, hochdepressiv zu sein, ist aber verdammt schwer. Jeder Trainer würde sich zudem die Frage stellen, ob ein Depressiver ein starker Rückhalt im Tor sein kann.

Wie ist es möglich, dass Robert Enke seine Krankheit über so langen Zeitraum hinweg verbergen und trotzdem Woche für Woche Top-Leistungen abrufen konnte?
KOGLER: An sich ist eine Depression nur schwer zu verbergen, weil der Körper darunter leidet. Es wird alles mühsam. Man steht schwer auf in der Früh. Robert Enke muss hochdiszipliniert, sehr zielbewusst und verantwortungsbewusst gewesen sein. Untersuchungen zeigen: Bewegung im Sport ist hilfreich gegen Depressionen und ein gutes Antidepressivum. Der Fußball – die Bewegung – wird Robert Enkes Freude gewesen sein. Jedes Training baut auf. Nachher fühlt man sich wohl – genau das Gegenteil zu dem, was bei Depressionen passiert. Der Mix aus Profitum, Verantwortungsbewusstsein, die Bewegungsfreude und der Kampf um einen WM-Fixplatz wird es möglich gemacht haben, dass er so lange durchgehalten hat.

Aber ist es nicht verwunderlich, dass keiner seiner Teamkollegen oder Betreuer, die tagtäglich mit ihm zu tun hatten, davon wusste?
KOGLER: Für mich ist es verständlich, dass die Kollegen nichts bemerkt haben. Man kommt zum Training, geht in die Umkleidekabine, wechselt ein paar Worte und geht auf den Platz. Hinzukommt die Tatsache, dass der Torwart sowieso eher isoliert ist und einen eigenen Trainer hat. Enke hatte wahrscheinlich gewisse Rituale bzw. Tagesgewohnheiten, um unerkannt zu bleiben, die ihm aber sehr viel Kraft gekostet haben. Hohe Disziplin und gleichzeitig das Gefühl zu haben, es ist sinnlos, ist ein sehr stark negativ wirkender Teufelskreis. Weniger professionelle Leute hätten ein derartiges Leben wahrscheinlich nicht lange durchgehalten.

Enkes langjähriger Psychiater hat in der Pressekonferenz am Mittwoch gesagt, dass bis zuletzt "keine Suizidgefahr" feststellbar gewesen sei. Wie konnte Enke sein Umfeld zuletzt so täuschen?
KOGLER: Das kann ich von außen nicht beurteilen. Es passiert Psychotherapeuten tragischerweise immer wieder, dass jemand Suizid begeht, obwohl eine enge Beziehung zu einer Person aufgebaut wurde. Selbstmord ist sehr oft eine Kurzschlusshandlung nach einem langen Leiden. Vielleicht hat Robert Enke schon seit Barcelona gelitten. Und dann kommen weitere Faktoren dazu: Ich habe z.B. erst kürzlich eine Journalisten-Diskussionen im deutschen Sportfernsehen gesehen. Die Frage lautete: Wer wird bei der WM im Tor stehen? Wie da abwertend über die Tormann-Kandidaten gesprochen wurde und das vor einer Millionenöffentlichkeit, kann einen sensiblen Menschen, wie Enke es offensichtlich war, sehr verletzen.