Das Glück und die Nerven, es ist ein ungleiches Paar, das manchmal, wie es sich gehören sollte, getrennte Wege geht, aber sehr häufig eine geradezu schicksalhafte Bindung eingeht. Der Fußball ist geradezu prädestiniert für die zweitgenannte Möglichkeit und es gibt ein Team, das diese Kombination über Jahrzehnte hinweg nicht, aber sowas von nicht entschlüsseln konnte: England.

Die Geschichte dieses Sports ist nur so gespickt von englischen Patzern, aber bei dieser Europameisterschaft scheint die Mannschaft von Gareth Southgate auf dem besten Weg zur Wende, der nur noch die finale Berührung fehlt, um der dauerhaften Jagd nach dem Triumph ein würdiges Ende zu setzen. Denn die „Three Lions“ haben im Verlauf des Turniers aufgeholt in der für das Mutterland so schwer zu fassenden Disziplin.

Frust, Qual & Mitleid

Seit 1966, als der WM-Titel im eigenen Land, auch dank des berühmten „Wembley-Tors“ (der letzte definitive Glücksfall) gewonnen wurde, war jedes Antreten eine vergebliche Liebesmüh, eingebettet in Last und Qual, und mit jeder verpassten Chance steigerten sich auf der einen Seite der Frust, auf der anderen Seite, dem Ausland, Spott und Hohn. Jenseits der Insel angesiedelte England-Fans, und derer gibt es viele, kamen innerhalb der Gefühlsschwankungsbreite zwischen Mitleid und Trauer niemals zur Ruhe. Erbarmt sich die Euro 2024 nun der Nachfahren der Erfinder?

Würde der Fußball nach dem Prinzip der ausgleichenden Gerechtigkeit funktionieren, wäre es höchste Zeit für einen englischen Titelgewinn. So zahlreich sind die von Pech, falschen Schiedsrichter-Entscheidungen und zerberstenden Nervenkostümen gekennzeichneten Auftritte bei Welt- und Europameisterschaften, dass eine vollständige Erfassung nur schwer möglich ist. Ein paar der markantesten Ereignisse seien an dieser Stelle erwähnt.

Das Wembley-Tor 1966, das England zum Titel verhalf, aber auch den Weg ins lange Unglück bereitete
Das Wembley-Tor 1966, das England zum Titel verhalf, aber auch den Weg ins lange Unglück bereitete © Imago

Es begann schon 1970, bei der WM in Mexiko, als Titelverteidiger England im Viertelfinale gegen Deutschland nach 2:0-Führung 2:3 verlor. Der legendäre Torhüter Gordon Banks war kurz vor dem Match wegen einer Lebensmittelvergiftung (Montezumas Rache? Sabotage?) ausgefallen und der eingesprungene Peter Bonetti der Aufgabe nicht gewachsen. Der 2020 verstorbene Ex-Goalie war vermutlich mit seinen Gedanken nicht so bei der Sache, nachdem erst am Tag zuvor eine Affäre seiner Frau die Runde gemacht hatte.

Der VAR hätte sehr geholfen

Mit VAR wäre vor allem für die Engländer so einiges anders verlaufen. Bei der Weltmeisterschaft 1986, neuerlich in Mexiko, wurde England im Viertelfinale unter anderem Diego Maradonas legendäre „Hand Gottes“ zum Verhängnis. Der Treffer zum 1:0 für Argentinien wurde gegeben, Teamchef Bobby Robson sah die Szene profaner: „Es war die Hand eines Halunken.“ Vier Jahre später, bei der WM 1990, wurde im Halbfinale gegen Deutschland ein England-Tor in der Verlängerung beim Stand von 1:1 wegen Abseits aberkannt. Mit Videobeweis hätte der Treffer gezählt. Chris Waddle traf die Innenstange.

Englisches Schicksal: Diego Maradona reichte dem Ball die Hand, das Tor zählte
Englisches Schicksal: Diego Maradona reichte dem Ball die Hand, das Tor zählte © Sonstiges

Unkonzentriert war dafür Paul Gascoigne im Halbfinale der Heim-Euro 1996, als abermals Deutschland den Engländern gegenüberstand. Der damalige Top-Star verfehlte auf der Linie den Ball und vergab so die Topchance auf das damals wirksame „Golden Goal“. 2010, auch hier ging es gegen Deutschland, erzielte Frank Lampard im Achtelfinale der Südafrika-WM kurz vor der Pause den Ausgleich zum 2:2, doch das Tor fand keine Anerkennung, obwohl der Ball mehr als einen halben Meter hinter der Linie aufgekommen und dann wieder zurück auf das Spielfeld gesprungen war. Im Viertelfinale der WM 2022 in Katar war dem 1:0 der Franzosen ein klares Foul von Dayot Upamecano an Bukayo Saka vorausgegangen, der VAR intervenierte nicht.

Die Elfer-Wende

Dazu kam eine unerträglich hohe Anzahl verlorener Elfmeterschießen. Auf sieben Entscheidungen vom Punkt mussten sich die Engländer allein zwischen 1990 und 2012 einlassen, sechsmal gab es eine Niederlage, ein Spiel wurde gewonnen, das Viertelfinale bei der Euro 1996 gegen, ja richtig, Spanien. Die letzte schmerzhafte Pleite auf dieser Ebene begab sich im Finale der Euro 2021 gegen Italien.

Englands Final-Drama 2021: Gianluigi Donnarumma hält Bukayo Sakas Elfer
Englands Final-Drama 2021: Gianluigi Donnarumma hält Bukayo Sakas Elfer © AFP / Paul Ellis

Doch die Euro 2024 nahm England zum Anlass, um sich auf eine Selbstentschädigungstour zu begeben. Sie starteten eine Aufholjagd und erzwangen sogar das bisher so einseitig in die Gegenrichtung gelaufene Glück, teilweise durchaus spektakulär. Jude Bellingham bewahrte mit einem grandiosen Fallrückzieher zum 1:1-Ausgleich gegen die Slowakei in der 95. Minute sein Team vor dem Aus im Achtelfinale. Im Viertelfinale hatten alle Engländer ihre Nerven voll im Griff und entschieden das Elferschießen gegen die Schweiz souverän für sich. Und im Halbfinale wurde die Glückssträhne, untermauert von einer starken Leistung gegen die Niederlande, ausgebaut, dank eines mittels VAR zuerkannten Strafstoßes und durch das in der Nachspielzeit gefallene Siegtor zum 2:1.

Doch erst ein Finalerfolg gegen Spanien kann England mit der Fußballwelt versöhnen. Der Titel ist überfällig.