Leben an dieser weißen, spiegelglatten Wand erscheint deplatziert, die Natur wirkt feindselig. So in etwa muss sich Bruce Willis gefühlt haben, als er im Streifen „Armageddon“ im All gegen einen eiskalten Koloss gekämpft und das Leben auf der Erde gerettet hatte. Ein Gefühl warnt unterbewusst: „Du hast hier nichts verloren.“ Doch Gabriel durchbricht im charmanten Südtiroler Dialekt, den er für die Touristen ein wenig eingedeutscht hat, jegliche Zweifel: „Beine strecken und mit den Steigeisen ins Eis hacken. Dann strecken und gleiches mit den Eispickeln. Ein Schritt nach dem anderen.“ Das klingt einfacher, als es ist. Weil es ein Loslassen an Gedanken, an Zweifel und ein Vertrauen ins Material im Kampf gegen die Gesetze der Natur erfordert: Eisklettern eben.

Das Reintal, ein Seitenarm des Ahrntals nördlich von Bruneck, bildet das Zentrum des Sports, der überraschenderweise gar nicht so eiskalt ist, wie befürchtet. (Angst-)Schweißausbrüche sind speziell bei Anfängern keine Ausnahme. Könnern und Profis hingegen wird im durchaus engen Tal ein imposanter, weitläufiger Spielplatz geboten. Hier werden Sehnsüchte, die mit Eispickel und Steigeisen in Erfüllung gehen, gestillt. Wenige Millimeter Stahl bohren sich ins gefrorene Wasser und geben überlebensnotwendige Stabilität. Ebenso das Sicherungsseil. Die senkrechte Anfängerroute im „Angerer Eisklettergarten“ beläuft sich nämlich bereits auf eine Höhe von 20 bis 25 Metern.

Kein Eisfall gleicht dem anderen, und nicht mal er sich selbst. „Jedes Jahr haben die Eisfälle eine völlig andere Charakteristik. Und das sorgt für ständig veränderte Herausforderungen unserer dutzenden, gefrorenen Wasserfälle“, schildert der ausgebildete Bergretter Gabriel, der sich neben Ski- und Wandertouren vor allem der Eiskletterei verschrieben hat. Zur Demonstration seines Könnens genügen ihm größere Eiszapfen mit einem Durchmesser von 15 Zentimetern, an denen er empor kraxelt. Er verspreizt sich regelrecht – mit scheinbar mühelosen Bewegungen. So besteigt er Türme mit Namen wie Hellteifl, Crazy Diamond, Milchtrinker, Couloir, Magersucht oder Eiskaffee, die man nur bei günstigen Bedingungen in Angriff nehmen sollte. „Und am Ende bleibt nichts zurück“, zeigt sich der junge Südtiroler auch der Natur gegenüber verantwortungsbewusst.

Auch abseits von Eis, Pickel und Steigeisen gilt das Reintal als echter Geheimtipp. Im hintersten Winkel Südtirols begegnen sich auf einer Höhe von über 3000 Metern die Bundesländer Tirol und Salzburg sowie Osttirol. Eingebettet in diesem kleinen Tal herrscht eine oft vermisste Dorfidylle. Sowie eine außerordentliche Ruhe. Schneeschuhwanderer, Langläufer und vor allem Skitourengeher sehen Rein in Taufers ebenfalls als ihr Refugium, ohne unnötigen Luxus und das große Tamtam.

Besonders hervorzuheben: die Liebenswürdigkeit, die Freundlichkeit, das Miteinander ist echt. Hotelier Karl-Heinz vom Bergchalet Reinerhof hat den Familienbetrieb vor vielen Jahren übernommen, mit viel Liebe und Leidenschaft einen Wohlfühlort mit eigener Saunalandschaft erschaffen. „Ab 75 Euro pro Person“, nennt er die Übernachtungskosten. Inkludiert sind Frühstück und ein köstliches Abendessen – vom Besitzer höchstpersönlich zubereitet. „Ich mache fast alles allein“, erzählt der Wahl-Venezianer, der Abends an der Bar steht und sich gerne von den Erlebnissen der Gäste berichten lässt – so wie es früher üblich war. Wenn die Sonne untergeht, Grappa kredenzt, Geschichten erzählt werden und draußen das stets tropfende Wasser aus den Bergen wieder die Eisfälle nährt.