Am Ende des Kriegs, als es an die Neuordnung der Welt und an die Beseitigung der Schäden ging, stand die Frage der Kriegsschuld auf der Tagesordnung. Wer war der Verursacher, wem waren die Millionen von Kriegsopfern und die immense Zerstörung anzulasten?

Die Frage der Schuld hat mehrere Dimensionen. Sie zielt einerseits darauf ab, die Verantwortung für die Entfesselung des Kriegs Personen oder Konfliktparteien zuzuschreiben. Und andererseits ging es bei Kriegsende darum, den Begriff als moralische Legitimation einer Seite verwenden zu können, um dem Gegner die Kosten und Konsequenzen zuschieben zu können. Es geht also im ersten Fall um eine nüchterne Analyse der auslösenden Schritte und Mechanismen, im zweiten Fall aber um eine Legitimation der politischen Entscheidungen zur Nachkriegsordnung.

Der habsburgische Anteil an der Auslösung des unmittelbaren Kriegsgeschehens von 1914 ist evident. Die erste Kriegserklärung trug die Unterschrift des Kaisers, der Krieg gegen Serbien war der Beginn der nicht zu stoppenden Kettenreaktion. Auch am Hinführen zu diesem Ereignis hat Österreich großen Anteil: Vom Drängen auf Präventivkriege durch Conrad von Hötzendorf bis zu den politisch unerfüllbaren Bedingungen an Serbien nach der Ermordung des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand ist der Beitrag der Donaumonarchie zu den dramatischen Ereignissen unübersehbar.

Neue Sichtweise

Aber schon vor einem halben Jahrhundert hat der deutsche Historiker Fritz Fischer in seinem Buch "Der Griff nach der Weltmacht" deutlich gemacht, dass es das Deutsche Reich war, dessen vermeintlicher Startnachteil bei der Aufteilung der Welt die handelnden Personen im Deutschen Reich besonders aggressiv gemacht hatte. Vor allem die Flottenausrüstung musste von den Mächten, die damals die Weltmeere beherrschten, als Bedrohung empfunden werden. Die Fritz-Fischer-Debatte wirkt bis heute nach. Erst unlängst hat Christopher Clark, ein in England lehrender australischer Historiker, die Sichtweise stark differenziert. Mit dem genauen Blick vor allem auf Serbien stellt sich die Frage der aktiven Kriegstreiber neu, eine einseitige Schuldzuschreibung ist nach heutiger Kenntnislage nicht mehr angebracht. Jedenfalls zogen laut Clark die europäischen Mächte wie "Schlafwandler" in den "Großen Krieg". Niemand konnte 1914 abschätzen, was ein moderner Krieg tatsächlich bedeuten, welche Tragödie sich entfalten würde.

Frankreich (mit seinen Revanchegelüsten gegenüber Deutschland), Deutschland (mit seinem Versuch, einen größeren Anteil an der Weltmacht zu erlangen), Russland (mit seinem Bestreben, ans Mittelmeer vorzustoßen), die Habsburgermonarchie (mit ihrer Absicht, durch Präventivkriege das fragile Reich nach innen zu festigen), Serbien (mit dem Versuch, ein südslawisches Reich zu bauen); all diese Mächte hatten keinen Blick für die weltweite Verzahnung der Interessen und Bündnisstrukturen, die aus einem Schneebrett eine Lawine entstehen ließen.

Dass bei den gigantischen Opfern, die der Krieg allen Beteiligten gebracht hatte, die Schuldfrage bei Kriegsende eine moralische Kategorie werden musste, war verständlich. Saßen ein Jahrhundert vorher, beim Wiener Kongress, die geschlagenen Franzosen noch als gleichberechtigte Verhandlungspartner mit am Tisch, waren nunmehr die Verlierer von den Friedensverhandlungen ausgeschlossen und mussten vor der Tür auf die Resultate warten. Sie hatten, neben den Gebietsverlusten, den Reparationszahlungen und den militärischen Beschränkungen, vor allem zur Kenntnis zu nehmen, dass sie sich wegen ihrer Aggression von 1914 eines Verbrechens schuldig gemacht hatten. Daher hatten sie, wie es im Versailler Vertrag formuliert wurde, die alleinige Verantwortung für den massenhaften Tod und für die Zerstörungen von Städten, Landschaften und Infrastruktur zu tragen.

Revanchegelüste

Eine solche Kriegsschuldformel wurde zum ersten Mal in der Geschichte 1919 in Paris formuliert. Die Sieger waren die Guten, die Verlierer die Bösen, Weiß hatte Schwarz niedergerungen, hatte sich der Aggression der nach der Macht strebenden Militaristen mit ihren Pickelhauben und deren Verbündeten erfolgreich entgegengestellt. So undifferenziert wurde die Schuldfrage nach Kriegsende beantwortet. Und daraus erwuchsen jene Revanchegelüste, die in die neuerliche, noch größere Katastrophe des 20. Jahrhunderts führten.