Als die Waffen am Ende des "Großen Kriegs" schwiegen, blickte die Weltöffentlichkeit auf menschliches Leid in bisher nicht vorstellbaren Dimensionen. Nimmt man die neuesten Berechnungen aus dem Jahr 2014, so gab es an den Fronten 10.001.800 gefallene Soldaten. Diese verteilten sich auf die etwa 20 Staaten der Entente und ihrer Verbündeten mit 5,65 Millionen und auf die Mittelmächte mit 4,35 Millionen Toten. Die Habsburgermonarchie zählte dabei 1,46 Millionen Menschen, die auf dem Schlachtfeld zurückblieben. Die meisten wurden auch dort bestattet, wovon die zahlreichen Soldatenfriedhöfe eindrucksvoll Zeugnis geben. Viele blieben unbestattet und nur wenige konnten auf heimischen Friedhöfen ihre letzte Ruhestätte finden.

Zitterer und Bettler

Zu diesen 10 Millionen Toten kamen gut 20 Millionen Menschen, die der Krieg körperlich oder psychisch schwer beeinträchtigt hatte. Ihnen fehlten Arme, Beine, der Unterkiefer oder die Schädeldecke. Sie waren "Zitterer", Menschen, die die gewaltigen Schockerlebnisse an der Front nicht verarbeitet hatten, denen der Krieg die Sprache und die menschliche Würde genommen hatte. Ihr Zittern, ihr mühseliges Bewegen und ihre Kommunikationsunfähigkeit prägten das Straßenbild nach 1918 ebenso wie die Straßenmusikanten, oft beinamputiert auf kleinen Wägelchen, die Zündholzverkäufer, die Bettler. Den schwachen neuen Staaten fehlten ausreichende Sozialeinrichtungen, um diese Menschen aufzufangen. Der Krieg hatte sich in die Menschen der Zeit ganz direkt und körperlich eingeschrieben.

Es waren aber nicht nur die Kämpfe mit den Waffen, die breite Spuren hinterließen. Auch im Hinterland hatten Not und Mangel die Menschen gezeichnet. In diese geschwächte Bevölkerung traf die erste Pandemie des 20. Jahrhunderts, spanische Grippe genannt. Sie suchte sich ihre Opfer wahllos. In mehreren Wellen ging sie rund um die Welt, schonte weder Sieger noch Verlierer und traf vor allem die Generation der 20- bis 40-jährigen Frauen und Männer. Die Älteren waren anscheinend breiter resistent, hatten sie doch schon im späten 19. Jahrhundert eine Grippewelle durchgemacht.

Die Zahl der Opfer ist hier schwer zu ermitteln. In kleinen Staaten, wie etwa in Neuseeland, gab es doppelt so viele Grippetote wie gefallene Soldaten. Bei uns weisen regionale Forschungsarbeiten aus der Umgebung von Graz, bei denen die Gefallenen, die auf dem Kriegerdenkmal verzeichnet sind, mit den Grippetoten von 1918 bis 1920 verglichen werden, darauf hin, dass sich die Zahlen fast die Waage halten. Die Grippe verdoppelte also praktisch die Opfer des Kriegs nochmals in den beiden ersten Nachkriegsjahren. Darunter war auch Egon Schiele, mit dessen Tod eine der höchsten künstlerischen Begabungen Österreichs verloren ging.

Laboratorium

Opfer waren aber nicht nur die Verwundeten und die Toten. Kaum eine Familie blieb unbeschädigt. Kinder wuchsen ohne Väter auf, es gab Pflegefälle zu Hause, Mangelkrankheiten, Tuberkulose und vieles mehr. Die Erziehung hatte gelitten, war doch alles den Kriegsnotwendigkeiten untergeordnet worden, und der Krieg hatte die individuelle Gewaltbereitschaft erhöht. Die Verteidigung mancher Dörfer gegen Hamsterer und Plünderer fand in Selbstorganisation statt, Waffen wurden nicht abgegeben, sondern privat aufbewahrt und später in die vielfältigen "Wehrverbände" eingebracht. Der Staat hatte das Gewaltmonopol verloren, die Gesellschaft hatte also zivilisatorisch mit dem Krieg einen Rückschritt erlitten.

Der Blick auf die Opfer des Kriegs und auf die Schäden, die die Kämpfe den Menschen und auch den Landschaften zugefügt hatten, das Weiterführen der Kämpfe in Russland und im Auflösungsprozess des Osmanischen Reichs, all das hätte eigentlich gegen weitere Kriege immunisieren sollen. Hätte. Dem war aber nicht so: Vom Krieg gegen die Zivilbevölkerung (auch die eigene, wie das Beispiel der österreichischen Ruthenen zeigt) bis zum Völkermord, wie er an den Armeniern verübt wurde, war der Erste Weltkrieg das Laboratorium für den Zweiten Weltkrieg, der all das noch einmal, noch perfektionierter, noch todbringender wiederholen sollte.