Herr Moser, die Erzählung von der gut verwalteten Republik entpuppt sich als Märchen. Wie konnte es so weit kommen?

JOSEF MOSER: Die vergangenen zehn bis 15 Jahre haben gezeigt, dass die Grundlage für Österreichs Erfolg nach 1945 nicht länger gegeben ist. Heute ziehen nicht mehr alle gemeinsam an einem Strang und in die gleiche Richtung. Über die Jahrzehnte haben sich alle ein Stück des Kuchens abgeschnitten, jetzt geht es für jede Seite vor allem darum, ihr Stück vom Kuchen zu verteidigen. Niemand denkt mehr daran, dass das vorhandene Geld nur treuhänderisch zu verwalten und bestmöglich für Bürgerinnen und Bürger einzusetzen ist. Die Pandemie hat dann offengelegt, dass nicht nur die Kompetenzverteilung verhindert, dass die Aufgaben effizient im Sinne der Bürger umgesetzt werden, sondern dass auch das Vertrauen in die Politik massiv Schaden genommen hat.

Beim Finanzausgleich hat sich die Regierung mit Ländern und Gemeinden vorerst auf eine Finanzspritze geeinigt, Details zu konkreten Reformen sollen folgen. Warum gelingt kein großer Wurf?

Das ist das Resultat einer weitgehenden Erstarrung des Systems. Doch statt das aufzubrechen, verstecken sich zu viele Akteure hinter den versteinerten Strukturen und schieben die Verantwortung auf die Verhältnisse ab. Das zeigt sich besonders deutlich im Gesundheitsbereich, wo Bund, Länder, Gemeinden, Sozialversicherungsträger, Ärztekammer und private Akteure in komplizierter Form eingebunden sind. Das wiederum hat zur Folge, dass der Patient ständig hin und her geschickt wird, mit dem Ziel, dass sich einer der Akteure etwas für sich selbst erspart. Ähnlich sind die Verhältnisse bei der Pflege, im Sozialen und auch beim Katastrophenschutz.

Was müsste also geschehen?

Fertige Konzepte für Verbesserungen in allen Bereichen liegen längst in den Schubladen, doch niemand hat den Willen oder die Kraft zur Veränderung, obwohl gerade jetzt die Aufgaben durch die Alterung und die Kosten durch die Inflation dynamisch wachsen. Wir müssen die Effizienzen in den verschiedenen Systemen, die Verbindungsfähigkeit zwischen den Bereichen stärken. Es braucht endlich eine Finanzierungs- und Ergebnisverantwortung. Wir wissen schlicht nicht, ob die enormen Geldsummen richtig eingesetzt werden oder eben nicht, der Zuständigkeitsdschungel verhindert eine effiziente Kontrolle.

Der Druck ist aber schon seit Jahren da, doch jetzt wird für viele deutlich, wie sehr es an allen Ecken und Enden zu knirschen beginnt.

Artikel 2 der Finanzverfassung sieht vor, dass jede Gebietskörperschaft den Aufwand für die in ihre Zuständigkeit fallenden Aufgaben zu tragen hat. Doch insbesondere mit 15a-Vereinbarungen wird das unterlaufen. Wir haben unglaublich viele Finanzströme, die Transparenz verunmöglichen. Das ganze System dient nicht mehr den Menschen, für die es doch eigentlich da sein sollte.

Wer ist dafür verantwortlich?

Um diese Frage schummeln wir uns ständig herum, vor allem, aber eben nicht nur im Gesundheitsbereich. Wir brauchen eine klare Ergebnisverantwortung. Die Zuständigkeitszersplitterung verhindert, dass das Steuergeld bei den Bürgerinnen und Bürgern ankommt, Verantwortung nicht zugewiesen werden kann, Transparenz fehlt und Sanktionen ins Leere laufen. Das gilt auch für die Umsetzung der verpflichtenden Klimaziele. Es fehlt eine klare Ergebnisverantwortung, es bleibt Bund, Ländern und Gemeinden überlassen, wie sie die Ziele erreichen.

Wer sitzt jetzt bei den Verhandlungen am längeren Hebel?

Faktisch sind das die Länder, und dies, obwohl eigentlich der Bund für den mit Abstand größten Teil der Einnahmen verantwortlich ist. Die Länder profitieren davon, dass der Bund ein ums andere Mal seine Hausaufgaben nicht gemacht hat. Jetzt stehen in zwölf Monaten die nächsten Nationalratswahlen an, es geht nur noch darum, wie viel mehr Geld draufgelegt wird. Worum sich keiner kümmert, sind die aufgestauten Effizienz- und Qualitätsverluste. Die Leidtragenden werden die Städte und Gemeinden sein, die nicht ausreichend Mittel für die Erledigung ihrer Aufgaben erhalten.

Ist Politik, in Österreich jedenfalls, überhaupt ein lernendes System?

Nein, leider. Politik ist in Österreich ein System, in dem die Akteure heute machen, was ihnen heute nutzt. Niemand engagiert sich, wenn sich der Nutzen erst in der Zukunft ergibt, weil dann haben die heutigen Akteure ja nichts mehr davon. Es ist eine verquere, für das Gemeinwesen schädliche Logik. Das zeigt sich auch bei der überfälligen Einigung auf ein Informationsfreiheitsgesetz: Nicht einmal jetzt stimmen alle Körperschaften zu, dass sämtliche Informationen für die Bürger einsehbar sein sollten. Es gibt immer noch Ausnahmen. Die aktuellen Fälle in Niederösterreich und Wien zeigen, dass volle Transparenz auch auf Gemeindeebene unumgänglich ist.