Fast 20 Prozent der Österreicher glauben, dass Jüdinnen und Juden zumindest eine Teilschuld an ihrer Verfolgung haben. Das geht aus der aktuellen Antisemitismus-Studie des österreichischen Parlaments hervor, den Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka (ÖVP) am Dienstag präsentierte. Geleitet hat sie die Politikwissenschaftlerin Eva Zeglovits vom Institut für empirische Sozialforschung in Zusammenarbeit mit Thomas Stern von Braintrust, einer Agentur für Wissensvermittlung.
Kommentar
Antisemitismus kein "Phänomen der Ränder"
Der Befund der Studie ist alarmierend. 15 Prozent der österreichischen Bevölkerung würden demnach einem manifesten Antisemitismus anhängen, also rassistische Stereotypen von Juden bedienen, den Holocaust leugnen oder Schuldumkehr betreiben. Fast ein Drittel der Österreicher, 32 Prozent, hätte latent antisemitische Einstellungen, glaubt also an antijüdische Verschwörungstheorien oder daran, dass ohne Israel Frieden im Nahen Osten herrschen würde. "Der Antisemitismus ist kein Phänomen der Ränder der Gesellschaft", sagte Sobotka. "Es gibt ihn auch in ihrer Mitte."
Er wies auch auf die lange Kulturtradition des Antisemitismus hin. Schon im Johannesevangelium finden sich Passagen, in denen Jüdinnen und Juden entmenschlicht werden, sagte er, in dieser christlichen Tradition würde auch Martin Luther stehen, die sich später mit dem nationalistischen Antisemitismus der Deutschnationalen vermengt und zum Holocaust geführt hätte. "Wir dürfen uns aber nicht mit der Erforschung der Zeit zwischen 1938 und 1945 begnügen", sagte der Nationalratspräsident.
Fokus auf türkischen und arabischen Migrationshintergrund
Auch deswegen gebe es die Studie, die nach 2018 und 2020 zum dritten Mal veröffentlicht wurde. 2000 Menschen wurden dafür befragt, zusätzlich wurde eine weitere Stichprobe mit knapp 1000 Leuten erstellt, die türkischen oder arabischen Migrationshintergrund aufweisen.
Unter ihnen ist laut den Ergebnissen der Studie der Antisemitismus besonders stark verbreitet. 36 Prozent von ihnen würden einem manifesten, sogar 54 Prozent einem latenten Antisemitismus anhängen. "Diese Menschen kommen aus Ländern, in denen der Antisemitismus zur Staatsräson gehört", sagt Sobotka.
Besonders drastisch zeigen sich die Unterschiede in der Bewertung des Holocausts: So denken elf Prozent der österreichischen Bevölkerung, in Berichten über Konzentrationslager würde übertrieben werden. Unter Menschen mit türkischem und arabischem Migrationshintergrund sind es 40 Prozent. Thomas Stern von Braintrust stellte allerdings fest: "Wir haben es nicht mit importiertem Antisemitismus zu tun. Menschen, die mit antisemitischen Einstellungen hierherkommen, treffen auf einen lange tradierten österreichischen Antisemitismus."
Bildung hilft bei der Sensibilisierung
Wie man dem Antisemitismus beikommen kann, ist für Zeglovits klar. "Bildung hilft", sagte sie und verwies auf die Ergebnisse der Studie, die zeigen, dass er unter Menschen mit höherem Bildungsabschluss weit weniger verbreitet ist.
Sie glaubt auch, dass das Problembewusstsein für Antisemitismus unter jüngeren Menschen bereits höher ist. Denn während die 37 Prozent der Durchschnittsbevölkerung schon einmal Antisemitismus in sozialen Medien und zu 22 Prozent bei Demonstrationen erlebt hätten, sind diese Werte bei den 16- bis 25-Jährigen deutlich höher: Unter ihnen betragen sie 52 bzw. 36 Prozent. "Das ist eine erschreckend hohe Zahl", sagt Zeglovits. "Aber es zeigt auch eine höhere Sensibilität."