Wenn heute das „Parlament“, wie es gemeinhin hin genannt wird, nach einer gut fünf Jahre dauernden Rundumerneuerung mit einem Festakt  wieder seiner Bestimmung übergeben wird, dann nimmt dieses Gebäude am Ring auch 140 Jahre einer turbulenten Geschichte in die neue Ära mit. Erbaut in einer Zeit, in welcher der Parlamentarismus in der Monarchie gerade die ersten Schritte hinter sich gebracht hatte, entwickelte sich in diesem Haus mit vielen Hürden und Unterbrechungen das demokratische Geschehen einer Volksvertretung zu einem Selbstverständnis, das mittlerweile zu wenig geschätzt wird.

Nach fatalen militärischen Niederlage konnte sich Kaiser Franz Joseph einer Abkehr vom Neoabsolutismus, wie er nach Ausradierung der Errungenschaften der Revolution von 1848 geherrscht hatte, nicht mehr versperren.  Der Herrscher musste es zulassen, dass das Habsburgerreich die Umwandlung zu einer konstitutionellen Monarchie erfuhr.  Mit der Verfassung von 1867, im Jahr zuvor hatte Österreich bei Königgrätz eine verheerende Niederlage gegen Preußen erlitten, kam nun dem Reichsrat, in dem die habsburgischen Königreiche und Länder (jedoch ohne dem mehr eigenständig gewordenen Ungarn) vertreten waren, auch eine bestimmende Funktion zu.

Die Institution gliederte sich in zwei Bereiche, dem Herrenhaus, also dem Oberhaus mit Hochadel und hohen Klerikern, sowie dem Abgeordnetenhaus, zuerst noch von den Landtagen beschickt, ab 1873 schließlich per direkter Wahl, aber noch eingeteilt in Kurien nach Stand und Vermögen. Das allgemeine Wahlrecht für Männer kam erst 1907 zur Anwendung, Frauen durften erst 1919 wählen. 

Der bisher in einer provisorischen, hölzernen Unterkunft in der Währinger Straße einquartierte Reichsrat sollte ein neues, repräsentatives Gebäude erhalten und zwar dort, wo die Reichshauptstadt ihren Bauboom erlebte. Am Ring. Ein staubiger Paradeplatz wurde nun nicht nur Standort des Wiener Rathauses, sondern auch des Reichsratsgebäudes, das wir heute als „das Parlament“ kennen. 

Der Ringstraßen-Architekt

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Der in Kopenhagen geborene Theophil Hansen verdiente sich als Architekt zuvor in Athen seine Sporen, wo sich mit der hellenistischen Baukunst befasste, die Universität, eine Sternwarte und eine Kathedrale entwarf. Nach Wien übersiedelt, gehörte zu seinen ersten Bauten das Arsenal, das heutige Heeresgeschichte Museum, es folgten die  auch im Backsteinstil errichtete Wiener Börse, das Gebäude des Musikvereins. Als Höhepunkt seines Schaffens erhielt Hansen den Auftrag für das Reichsratsgebäude, dass er in einen  klassizistisch-hellenistischen Stil kleidete, als Verweis auf die Wurzeln der Demokratie. Nach rund neun Jahren Bauzeit war das Gebäude 1883 fertig. 

Ein Parlament mit und für viele Nationen

Auch wenn dieses am Ring angesiedelte Parlament nur die Abgeordneten der „im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder“ - also mit Ausnahme Ungarns, das sein eigenes Parlament in Budapest hatte – umfasste, war die Zahl der Mandatare des „Unterhauses“ stattlich. Der große Sitzungssaal war für 530 Abgeordnete ausgelegt, heute dient er Zusammenkünften der Bundesversammlung, der gemeinsamen Sitzung von Nationalrat und Bundesrat.  Im altösterreichischen Abgeordnetenhaus fanden sich die Vertreter von elf Nationen, elf Muttersprachen. Gesprochen wurde bei den Sitzungen Deutsch.  Dem alten Reichsrat gehörten Persönlichkeiten an, die später Geschichte schrieben: Tomas Masaryk, im November 1918 erster Präsident des neuen Staates Tschechoslowakei, Alcide de Gasperi, nach dem Zweiten Weltkrieg italienischer Ministerpräsident und erster Parteichef der Democrazia Cristiana, sowie Ignacy Daszynski, erster Ministerpräsident des 1918 wiedererrichteten Staates Polen.

Der Kaiser und sein Parlament

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Kaiser Franz Joseph wandelte sich nicht aus Überzeugung zu einem konstitutionellen Monarchen, sondern aus der Not. Ein Relief über dem Haupteingang verherrlicht ihn als in eine Toga gekleideten Imperator, doch fand sich der Monarch nur zwei Mal in diesem Gebäude ein: bei der Gleichenfeier 1879 und nach der Fertigstellung des  Prunkbaues. Eine Sitzung des Reichsrates beehrte der Kaiser nie. 

Prügeleien, Klappern und Zwischenrufe

Das Parlament glänzte nicht immer als Ort des gepflegten Meinungsaustausches. Vielfach klapperten Abgeordnete des Reichsrates mit den Tischpulten um zu lärmen und andere  am Rednerpult zu stören. Zu einem Tollhaus wurde das „Hohe Haus“ (wie man Parlamente allgemein auch nennt), als Ministerpräsident Kasimir Felix von Badeni seine Sprachenverordnung vorlegte,  die ermöglichen sollte, dass im Königreich Böhmen bei allen Ämtern und Behörden auch Tschechisch verwendet werden kann. Im September 1897 forderte Badenie nach einer turbulenten Sitzung einen Abgeordneten zum Duell, am 25. November prügelten sich Abgeordnete. Die Polizei musste eingreifen. In der Zweiten Republik kam es im Nationalrat zwar nicht zu Handgreiflichkeiten, doch zu verbalen Entgleisungen, die mit an und für sich folgenlosen Ordnungsrufen des Präsidiums geahndet wurden und werden. Keinen Ordnungsruf gab es, als 1980 im Sitzungssaal aus den Lautsprechern der Zuruf schallte: „Hoits die Goschn da unten“. Es war der Nationalratspräsident Anton Benya selbst, dem die Zunge ausgekommen war und der vergessen hatte, das Mikrofon auszuschalten.

Ein Ende und ein Anfang

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Die erste Sitzung des Reichsrates in seinem neuen Quartier am Ring datiert mit 4. Dezember 1883, die letzte Sitzung (des Abgeordnetenhauses) am 12. November 1918.  Am gleichen Tag trat in diesem Haus erstmals auch die Provisorische Nationalversammlung der Republik Deutschösterreich  zusammen.

Frauen im Parlament

Der Reichsrat der Monarchie war ausschließlich männlich besetzt. Als die tschechische Schriftstellerin Božena Viková-Kunětická 1912 in den böhmischen Landtag gewählt wurde und damit die erste Abgeordnete Mitteleuropas gewesen wäre, annulierte der Statthalter Franz Fürst von Thun das Wahlergebnis. Erst 1919, nachdem Frauen auch erstmals das Wahlrecht hatten, zogen die ersten weiblichen Abgeordnete in das Hohe Haus ein, acht Frauen gehörten hiermit der 159 Abgeordnete umfassenden Konstituierenden Nationalversammlung an. 

Ausschaltung der Republik

Der 4. März 1933 markierte die letzte Sitzung des Nationalrates der Ersten Republik. Nach einem Streit über die Folgen des kurzen Eisenbahnerstreiks  legten alle drei Präsidenten ihre Funktionen zurück, was Bundeskanzler Engelbert Dollfuß „Selbstauflösung des Parlaments“ nannte und fortan autoritär regierte. Nach der Ermordung von Dollfuß durch die Nazis, hielt Nachfolger und Bundeskanzler Kurt Schuschnigg am 24. Februar 1938 im historischen Sitzungssaal des einstigen Reichsrates eine Rede die mit dem flammenden Appell endete: „Rot-weiß-rot bis in den Tod.“

Gauleitung

Nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht und dem Anschluss Österreichs an das nationalsozialistische Deutsche Reich  funktionierten die neuen Machthaber das Parlamentsgebäude zu ihrem „Gauhaus“, zuerst Gauleiter Josef Bürckel die Gleichschaltung Österreichs organsierte und später der frühere Reichsjugendführer und nunmehrige Gauleiter Baldur von Schirach Sprechtage abhielt und zu Veranstaltungen einlud. Sonst aber hielt Schirach am Ballhausplatz Hof. Im Zweiten Weltkrieg erlitte der Bau von Theophil Hansen schwere Bombentreffer.

Die Rückkehr zum Parlamentarismus

Nach der Installierung der ersten Provisorischen Regierung  des Nationalrates übergaben ihr die Sowjettruppen am 29. April 1945 das Parlament. Am 19. Dezember des gleichen Jahres hielt hier der neu gewählte Nationalrat seine erste Sitzung ab.

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Der Marathon am Redepult

Zu Marathonreden als Mittel der Verhinderung oder des Hinauszögerns griffen bereits die Abgeordneten des Reichsrates. Im September 1897 begann ein Abgeordneter um neun Uhr am Abend mit seiner Rede und endete erst nach zwölf Stunden. Den Rekord der neueren parlamentarischen Zeitrechnung hält der derzeitige Vizekanzler Werner Kogler, der 2010 als Mandatar der Grünen im Budgetausschuss aus Protest gegen Sparpläne der Regierung eine Marathonrede von zwölf Stunden und 42 Minuten hielt. Er begann damit um zwei Uhr früh. Im gleichen Jahr stellte seine Parteikollegin Madeleine Petrovic im Plenum des Nationalrates einen Rekord auf – ihre Rede dauerte zehn Stunden und 35 Minuten. Eine Änderung der Geschäftsordnung unterbindet weitere Steigerungen dieser Art – die Redezeit im Plenum ist auf 20 Minuten eingeschränkt.