Der frühere EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat deutliche Kritik an der Europapolitik der österreichischen Regierung geübt und ihre Handlungsfähigkeit infrage gestellt. "Für mich ist das keine Regierung mehr im klassischen Sinne. Regierungen sind da, um zu regieren. Nicht um trotz größter Meinungsunterschiede im Kabinett zu bleiben", sagte Juncker der Wochenzeitung "Furche" mit Blick auf Gräben zwischen ÖVP und Grünen. "Traurig" mache ihn das Schengen-Veto.
Juncker wies diesbezüglich darauf hin, dass er als Christdemokrat "mit der ÖVP in der EVP unterwegs" sei. "Zur ÖVP meine ich: Es reicht nicht, sich das 'Christlich' auf die Fahnen zu schreiben, es aber nicht im Herzen zu tragen", sagte der frühere EU-Kommissionspräsident (2014-19). Sein Verhältnis zum damaligen Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) charakterisierte er als "schwierig, da ich immer sehr viel Zeit darauf verwenden musste, ihm das übergeordnete Europäische zu erklären. Ich habe da manches erlebt. Kurz war im Prinzip erst einmal dagegen - und zwar gegen alles, was als Europa kam. Aber letztlich hat er sich doch immer wieder eingereiht."
Die EU-Korruptionsaffäre bezeichnete Juncker als "absolut verdammenswert". "Aber, was wir jetzt hier in Brüssel erleben, betrifft nur winzige Teile des europäischen Parlaments", betonte er. Es gebe im Europaparlament "einige, die Faulenzer sind. Aber da gibt es viele, die intensiv arbeiten und mehr wissen als so manche Regierungschefs."
"Habe Putin eigentlich sehr gemocht"
Juncker berichtete in dem Interview auch ausführlich über seine politische und persönliche Beziehung mit Kreml-Chef Wladimir Putin, den er "eigentlich sehr gemocht" habe. Dieser habe ihn nach einer Sitzung während des luxemburgischen EU-Ratsvorsitzes im Jahr 2005 einmal in seine "Privatappartements" gebeten und in eine eigene Kapelle geführt. "Dann knieten wir uns nieder und wurden von einem Popen gesegnet, damit unser Gespräch gut verlaufen möge. Das war ein fast intimer Augenblick. Wir haben uns über sein Privatleben unterhalten, er hat sich sehr bemüht um mich. Man darf das heute fast nicht mehr sagen: Aber unser Verhältnis von damals kann man als freundschaftlich bezeichnen."
Putin habe im Laufe der Jahre "mit steigender Tendenz" in Vier-Augen-Gesprächen gesagt, "dass ihn der Westen verraten hätte", so Juncker weiter. Dennoch sei es für ihn "unvorstellbar" gewesen, dass Putin die Ukraine angreifen werde. "Ich war felsenfest davon überzeugt, dass dieser Krieg nicht stattfinden wird." Nun ist Juncker der Meinung, dass es mit dem russischen Machthaber keinen Frieden geben könne. "Ich glaube, mit der Person Putin kann man das nicht. Vielleicht in die Wege leiten, aber nicht abschließen."