Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) beklagt einen massiven Anstieg der Migration in Österreich und kritisiert in diesem Zusammenhang die EU-Kommission in scharfer Form. "Ich erwarte, dass die EU-Kommission in die Gänge kommt, denn immer mehr Mitgliedsländer sind unzufrieden", sagte Nehammer in einem Interview mit der deutschen Zeitung "Welt" (Dienstag-Ausgabe).

"Warum kümmert sich die Kommission als Hüterin der Verträge nicht endlich darum, dass EU-Recht andauernd gebrochen wird, wenn in einem Binnenland wie Österreich so viele irreguläre Migranten ankommen, die zuvor durch mehrere EU-Länder und sichere Drittstaaten gezogen sind, ohne angehalten geworden zu sein?", fragte Nehammer. Die EU-Kommission habe "die löcherigen Außengrenzen leider in den vergangenen Jahren außer Acht gelassen".

"Effektiver Schutz gegen Schlepper"

Nehammer weiter: "Die EU-Grenzschutzagentur Frontex muss ebenso in die Pflicht genommen werden, um endlich die EU-Außengrenze effektiv zu schützen und ein Schutzwall für die Mitgliedstaaten und gegen Schlepperkriminalität zu sein." Außerdem müsse die EU-Kommission dafür sorgen, dass die Heimatländer illegale Migranten schnellstmöglich zurücknehmen und diesen Staaten entsprechende Anreize geben.

Nach den Worten des Kanzlers verzeichnete Österreich zwischen Anfang Jänner und Ende August nahezu 57.000 Asylanträge - ein Plus von 195 Prozent gegenüber dem Vorjahr. "Und die Zahlen werden weiter steigen. Hinzu kommen noch etwa 85.000 Ukrainer und Ukrainerinnen, denen wir Schutz gewähren, und die wir versorgen. Das Maß ist voll in Österreich", so Nehammer.

"Team Europa"

Der für Migration zuständige EU-Kommissionsvizepräsident Margaritis Schinas betonte am Montag nach einem Treffen mit Innenminister Gerhard Karner (ÖVP) in Wien: "Kein Staat kann Migration alleine bewältigen." Man müsse als "Team Europa" zusammenarbeiten. Er habe Karner über seine jüngste Balkan-Reise informiert, nachdem die steigende Zahlen von Ankünften Österreich unter Druck setzten, so Schinas. Er wollte am Montagabend auch mit Nehammer zusammentreffen.

Alleingänge bei Gaspreisbremse

Angesichts steigender Energiepreise kritisierte der Kanzler nationale Alleingänge bei der sogenannten Gaspreisbremse. "Aber diese Gaspreisbremse kann nur europäisch organisiert sein. Nationale Alleingänge verbieten sich, auch weil das die Wettbewerbsfähigkeit im Binnenmarkt verzerren kann", sagte Nehammer der Zeitung. "Die EU muss gemeinsam einen bestimmten Preis für Gas, das für die Stromerzeugung verwendet wird, schultern und diesen an die Verbraucher weitergeben. Nur so können endlich die hohen Gaspreise von den Strompreisen entkoppelt werden. Natürlich müssten für das Gas Marktpreise bezahlt werden, sonst erhielte die EU ja kein Gas." Die Differenz zwischen dem marktüblichen Kaufpreis und dem Preis für die Verbraucher müssten dabei von der öffentlichen Hand getragen werden.

Eine Sprecherin der EU-Kommission in Brüssel sagte am Dienstag, man sei sich der Herausforderungen bewusst. Österreich habe einen bedeutenden Anstieg verzeichnet, vor allem aus Indien und Tunesien und über die Balkanroute. Das Thema stehe auch beim EU-Innnenministerrat am Freitag zur Diskussion. Die Sprecherin kündigte außerdem Ministerberatungen von Österreich, Slowakei, Slowenien, Tschechien und Ungarn dazu an.

FPÖ: "Flucht vor eigener Verantwortung"

FPÖ-Sicherheitssprecher Hannes Amesbauer sagte, die Aussagen Nehammer seien in Wahrheit eine krachende Selbstanklage. "Wer hat Nehammer, Karner und Co. denn eigentlich daran gehindert, endlich zu reagieren und das magnetisch für illegale Einwanderer wirkende "Welcome-Service" durch einen konsequenten Grenzschutz zu ersetzen? Sich jetzt auf die EU herausreden zu wollen, ist eine Flucht vor der eigenen Verantwortung und untermalt das Totalversagen sowie die gebrochenen Versprechen an die eigenen Wähler", kritisierte Amesbauer. "Für die Sicherheit in Österreich ist in aller erster Linie die österreichische Bundesregierung verantwortlich - sich jetzt hinter dem Scheitern in Brüssel zu verstecken, ist nur noch feige."