Die ÖVP unter Alois Mock war immer erweiterungsfreudig, jetzt hat man den Eindruck, dass die Volkspartei Vorbehalte gegen die Ukraine hat. Warum? Aus Rücksicht auf Putin oder die FPÖ?
Karoline Edtstadler: Es gibt keine Vorbehalte. Die Ukraine braucht wahre Freunde, keine Märchenerzähler. Es ist unbestritten, dass die Ukraine ein europäisches Land ist und unsere Werte verteidigt. Aber es gibt keine Abkürzungen auf dem Weg in die EU. Es darf auch nicht zwei Klassen von Beitrittswerbern geben. Am Balkan warten manche Staaten schon seit Jahren auf den nächsten Schritt, etwa Albanien, Nordmazedonien, Kosovo. Bosnien wartet immer noch auf einen Kandidatenstatus und wird womöglich von der Ukraine überholt. Wir dürfen nicht mit zweierlei Maß messen.
Beitrittskandidat?
Sollte die Kommission heute der Ukraine den Kandidatenstatus einräumen, würde sich Österreich beim Gipfel nächste Woche dagegen querlegen?
Wenn die Kommission grünes Licht für einen Kandidatenstatus geben sollte, werden wir dem nicht im Weg stehen. Nur kann ich mir ein eindeutiges grünes Licht, was die Erfüllung aller Bedingungen betrifft, noch nicht vorstellen. Wir brauchen ein Gleichziehen mit dem Westbalkan, es geht da auch um die Sicherheit Europas. Wir müssen ein Zeichen am Westbalkan setzen, denn sonst verlieren wir die Region gänzlich. Es reicht dort ein Streichholz, um einen Flächenbrand auszulösen.
Ist es fair, dass die Ukraine für die Versäumnisse der Europäer am Westbalkan bestraft wird?
Das Gegenteil ist der Fall. Die Ukraine hat einen Antrag auf Beitritt gestellt, und es ist gut und richtig, dass man der Ukraine diese Aufmerksamkeit schenkt. Das Land kämpft einen Kampf für unsere Werte. Es bekam innerhalb von drei Monaten eine Antwort auf den Antrag. Bosnien hat drei Jahre darauf gewartet.
Es ist eine Notsituation?
Das stelle ich nicht in Abrede, man darf nicht unfair werden.
Nochmals: Wird die Ukraine aus österreichischer Sicht eines Tages der EU beitreten? Oder muss sie mit dem Vorhof vorliebnehmen?
Es geht um die Vollmitgliedschaft – so wie es den Ländern des Westbalkans um die Vollmitgliedschaft geht. Der Weg dorthin ist ein steiniger.
Ist das Problem am Westbalkan wirklich, dass die EU zu zögerlich ist? Ist es nicht vielmehr so, dass die Länder zu wenig ambitioniert sind?
Bei Albanien und Nordmazedonien hat die EU ihre Versprechen gehalten. Seit 2020 hat es keine einzige Runde gegeben bei Nordmazedonien, weil Bulgarien die Gespräche blockiert hat. Wenn nichts weitergeht, dürfen wir uns nicht wundern, wenn das zu Depressionen führt und die Staaten sich abwenden. Wir brauchen eine schnellere, graduelle Integration.
Das hat Österreich in einem Non-Paper vorgeschlagen?
Ja. Wenn die Länder zum Beispiel im Bildungsbereich Fortschritte erzielen, sollten die Menschen das spüren und man sollte den jungen Menschen dort etwa Erasmus ermöglichen. Ich kann mir auch vorstellen, dass sie bei informellen Treffen der Innen- und Justizminister dabei sind, wenn sie in diesen Bereichen entsprechende Fortschritte erzielt haben.
Ist das eine Art von EWR für den Westbalkan?
Auch Frankreich denkt an, dass man bei konkreten Fortschritten die Länder stärker in die EU einbindet.
Soll Moldau eines Tages Vollmitglied werden?
Jedes europäische Land hat das Recht, einen Antrag auf Vollmitgliedschaft zu stellen. Es soll uns nichts Schlimmeres passieren, als dass sich Länder auf den Weg nach Europa machen.
Das Ziel ist die Vollmitgliedschaft?
Das Ziel ist die Vollmitgliedschaft. Es geht nicht darum, dass man Alternativen schafft. Wir müssen den Prozess kreativer gestalten.
Noch einmal: Kann sich Österreich die Vollmitgliedschaft von Moldau und Georgien in der Europäischen Union vorstellen?
Das hängt davon ab, ob sie die Bedingungen erfüllen. Allerdings gibt es auch ein weiteres Fragezeichen, und das ist die zeitliche Komponente.
Das ist bei jedem Beitrittswerber so.
Das stimmt, es gibt keine Abkürzungen. Da sind die Verträge klar. Ich bin ein großer Fan der europäischen Integration, es darf keine unterschiedliche Behandlung geben.