Die meisten lassen keinen Zweifel an Ihrer zweiten Amtszeit. Macht Sie das im Hinblick auf die Wahlbeteiligung nicht nervös?
Alexander Van der Bellen: Sicher, es könnte meine Wählerinnen und Wähler in falsche Gewissheit versetzen. Eine hohe Wahlbeteiligung ist auch ein wichtiges Zeichen für eine starke Demokratie. Also bitte hingehen und mir die Stimme geben.

Ist es demokratiepolitisch vertretbar, dass nur eine Parlamentspartei eine Gegenkandidatur plant?
Darüber kann man geteilter Meinung sein. Aber ich finde, bei der Bundespräsidentenwahl geht es darum, wer unser Land am besten vertritt, wem man das zutraut und wer das schon bewiesen hat. Ich finde, das bin ich, in aller Bescheidenheit. Bei der Nationalratswahl ist das etwas anderes, da kandidiert selbstverständlich jede Partei.

Wie erklären Sie sich die ausgebliebene ÖVP-Wahlempfehlung?
Karl Nehammer hat mir viel Erfolg gewünscht, das nehme ich gern zur Kenntnis. Im letzten Wahlkampf habe ich auch auf Gemeindeebene von schwarzer wie roter Seite Zuspruch von Bürgermeistern bekommen.

Ihr Vorgänger Heinz Fischer hat bei seiner Wiederwahl rund 2-3 Millionen Euro Budget gehabt. Wie viel planen Sie ein?
Wir planen noch keine Ausgaben, sondern schauen erst einmal, wie viel hereinkommt. Ich plädiere sehr für einen sparsamen Wahlkampf. Das muss ja auch im Interesse allfälliger Mitbewerber liegen.

Während Ihrer Amtszeit wurde kritisiert, dass Sie sich zu wenig zu Wort melden. Bei welchem Thema hätten Sie doch lieber auf den Tisch gehauen?
Auf den Tisch hauen ist nicht unbedingt meine Sache, aber Missstände habe ich in meinen Reden klar benannt. Kirchschläger hat bei Ungereimtheiten beim Bau des Allgemeinen Krankenhauses die Trockenlegung saurer Wiesen gefordert. Aus biologischer Sicht sollte man diese übrigens gerade nicht trockenlegen. Mag sein, dass ich die Balance manchmal nicht zur Zufriedenheit aller gefunden habe. Aber im Großen und Ganzen glaube ich schon, dass ich das gut gemacht habe.

Gegenüber dem ORF haben Sie erklärt, dass bei den bekanntgewordenen Chats "vieles übertrieben wurde". Was meinten Sie?
Das Sittenbild, das sich in diesen Chats abgezeichnet hat, hatte eine verheerende Wirkung in der Öffentlichkeit. Zu viele Leute haben geglaubt, dass das so üblich ist in der Politik. Das ist es aber in meinen Augen nicht. Das waren Grenzüberschreitungen, die ich so nie wieder hören möchte. Das andere ist die juristische Seite. Die Staatsanwaltschaften werden hier eines Tages zu entscheiden haben, ob sie es zu den Akten legen oder Klage erheben.

"Eines Tages" trifft es gut. Dass solche Verfahren lange dauern, davon können Grasser und Co. ein Lied singen. Was bleibt, ist ein schlechter Eindruck. Was werden Sie dagegen tun?
Wenn man den Rechtsstaat ernst nimmt und ich hoffe, wir nehmen ihn alle sehr ernst, dann wird man die Wünsche aus der Justiz nach mehr oder richtig ausgebildetem Personal hören müssen.

Hätten Sie bei den ÖVP-Korruptionsvorwürfen nicht stärker auftreten müssen, wie nach Ibiza? Einfluss auf Medien, intransparente Finanzierung und Ausschreibungen hat es ja auch mutmaßlich in der ÖVP gegeben.
Sie sagen zu Recht "mutmaßlich". Soll sich der Bundespräsident zu jedem mutmaßlichen Vorgang zu Wort melden?

Auf Ibiza war es doch auch mutmaßlich, strafrechtlich relevant war am Band wenig.
Strafrechtlich ist die eine Sache. Aber was da gesagt wurde, war ja unmissverständlich.

Aber was in den Chats nicht geschrieben wurde?
Der Wunsch, öffentlich Aufträge zu manipulieren, die Pressefreiheit zu untergraben und die Parteienfinanzierung auf illegale Beine zu stellen, wurde dort offen gesagt. Da sehe ich einen großen Unterschied.

Aber in den Chats ist ja auch ersichtlich, dass Geld an offiziellen Wegen hätte vorbeigehen sollen.
Allerdings. Das klingt nach einem legitimen Interesse der Staatsanwaltschaft.

Würden Sie Herbert Kickl (FPÖ) noch einmal angeloben?
Ungern.

Vermutlich war das beim ersten Mal schon so.
Ja, aber ich habe nicht vorhergesehen, wie Kickl sich als Innenminister verhält. Dass er Polizei gegen Polizei in der BVT-Razzia einsetzt, aus der auch nichts herausgekommen ist. Als Kurz mir vorgeschlagen hat, ihn als Innenminister zu entlassen, bin ich dem nachgekommen. Das hängt ihm und mir nach.

Werden Sie sich in Ihrer möglichen zweiten Amtszeit deutlicher zu Wort melden, weil Sie keine Wiederwahl im Blick haben?
Darüber habe ich mir auch schon Gedanken gemacht. In der Tat, die Verlockung ist groß. Aber ich werde mich weiter bemühen, die Würde des Amtes im Auge zu behalten. Man muss sich naturgemäß nicht mehr so zügeln. Aber das soll jetzt keine Absichtserklärung sein.

Kein ausschweifender Präsident Van der Bellen, also?
Nein, das liegt mir auch nicht. Man muss sich vorstellen, unter welchen Rahmenbedingungen Entscheidungen passieren. Namentlich bei komplexen finanzpolitischen Themen. Was tun gegen die Preis-Inflation? Da liegen die Antworten nicht einfach so am Tisch. Das hab' ich im Hinterkopf. Deswegen bin ich manchmal großzügiger.

Also ist die Kritik von Fachleuten nicht berechtigt? Sie fordern, dass die Regierung bei der Teuerung der Bevölkerung reinen Wein einschenkt.
Wir sind in einer komplizierten Situation. Was die Europäische Zentralbank jetzt tut, hat Auswirkungen auf uns alle. Soll sie den Zinssatz erhöhen? Gar nichts tun? Sich an den USA orientieren? Nur als Beispiel, wie komplex die Situation gerade ist.

Wäre er in einer zweiten Amtszeit lauter? "Die Verlockung ist groß."
Wäre er in einer zweiten Amtszeit lauter? "Die Verlockung ist groß." © Christoph Kleinsasser

In einer Initiative fordern bekannte Persönlichkeiten eine ergebnisoffene Sicherheitsdebatte. Sollte man die Debatte führen?
Absolut, ich bin gerne dazu bereit. Meine Ausgangsposition ist aber: Ich gehöre einer Generation an, die das Zustandekommen der Neutralität bewusst erlebt hat und ich schätze sie sehr. In meiner Familie wurde es vielleicht auch mit besonderer Deutlichkeit wahrgenommen, weil es uns nicht möglich war, die sowjetische Zone zu betreten und nach Wien zu kommen. Das war 1955.

Und heute?
In den Jahrzehnten danach hat sich gezeigt, dass neutrale Staaten Brückenbauer sein können. Ich sehe bei zwei Dingen dringenden Handlungsbedarf. Bei der Diplomatie: Sie muss viel besser ausgebaut sein, um als Neutraler eine diplomatische Rolle zu spielen. Und bei der Ausrüstung des Bundesheeres. Es geht so nicht weiter, das predige ich, seit ich Präsident bin.

Warum hört da die Regierung nicht auf Sie?
Es geht nun etwas weiter, Gott sei Dank. Es sind aber noch genug Baustellen offen.

Zum Beispiel bei der Luftraumüberwachung. Mahnen Sie da eine schnelle Entscheidung ein?
Vor allem finanzielle Mittel dafür. Wenn wir schon dabei sind: Die EU-Länder haben vier bis fünf Mal höhere Militärausgaben als Russland. Wir haben auf EU-Ebene ein Koordinations- und Kooperationsproblem.

Ist das ein Plädoyer für eine EU-Armee?
Nein, das ist es noch nicht. Auch darüber werden wir diskutieren müssen, nicht nur über die Neutralität.

Laut Ex-Generalstabschef Robert Brieger sollte das langfristig der Weg sein.
Die Frage ist nur: Heißt langfristig, werde ich das noch erleben? Im Ernst: Ich finde schon, dass wir unnötig Geld in der EU aus dem Fenster schmeißen. Jeder hat seinen eigenen Typ Panzer, Hubschrauber und so weiter.

Die ÖVP findet, es wäre eine Entwertung der Staatsbürgerschaft, wenn die Hürden dafür gesenkt werden. Und Sie?
Ich sehe das anders. Die Staatsbürgerschaft ist ein hohes Gut. Ich finde, die Hürden für die Erlangung sind zu hoch. Im Übrigen könnte man auch diskutieren, was der tiefere Sinn dahinter ist, dass z. B. eine Deutsche, die seit 20 Jahren hier lebt, keine Doppelstaatsbürgerschaft kriegt. Und im Zweifel weder hier noch dort wählen kann. Und das ist Europäische Union?

Zur Bundespräsidentenwahl darf antreten, wer 35 oder älter ist. Sollte die Hürde gesenkt werden?
Na ja. Ich war sehr für das Herabsetzen des aktiven Wahlalters auf 16 Jahre. Aber für das Amt des Bundespräsidenten braucht es schon eine gewisse Lebens- und Berufserfahrung und die kommt auch mit einem gewissen Alter.

Wie fühlt es sich an, eventuell als ältester Präsident der Geschichte Österreichs einzugehen?
Ist es so? Na, Kummer bereitet mir das nicht. Im Gegenteil. Die Tätigkeit hält fit. Wenn Sie mich anschauen – aber Sie brauchen die Frage nicht zu beantworten: Finden Sie nicht, dass ich fitter bin als 2016?

Dieses Interview fand gemeinsam mit der "Presse" statt.