Sie haben schon im Interview zu ihrem Amtsantritt 2018 auf die große Zahl an konventionellen Waffen in Europa hingewiesen sowie auf die Gefahr, die von ihnen ausgeht. Wie viel Vorahnung steckte in der Aussage?
ROBERT BRIEGER: Ich hatte nie Zweifel, dass militärische Machtmittel auch eingesetzt werden, wenn ein politischer Wille dahintersteht und eine strategische Lage es erlaubt. Im Falle des ukrainischen Konflikts kann man davon ausgehen, dass es bis zu einem gewissen Grad auch ein Test ist, inwieweit die westliche Wertegemeinschaft es zulässt, dass ein souveräner Staat einem unprovozierten Angriff ausgesetzt ist.
Bestehen wir diesen Test?
Wir bestehen ihn durch eine differenzierte Reaktion, weil man die damit verbundenen Risiken im Auge behalten muss. Aber man darf nicht glauben, dass die Sanktionen ohne Wirkung bleiben. Und ich halte es für legitim und richtig, wenn unsere Bundesregierung zum Ausdruck bringt, dass man zwar militärisch neutral sein kann,dass aber im Fall von Verletzung von Völker- und Menschenrecht eine Position eingenommen wird.
Warum braucht es immer erst die Krise, damit Sicherheitspolitik gesamtstaatlich diskutiert wird?
Derartige strategische Krisen sind ein Katalysator, der Trends verstärkt. Hier ist es in einem ganz dramatischen Umfang geschehen, weil vielerorts nicht mehr damit gerechnet wurde, dass in Europa konventionelle Kriege führbar sind. Man hat immer vorausgesetzt, dass sich das in ein hybrides Spektrum verlagert und Auseinandersetzungen nur noch auf Cyberebene geführt werden. Ich möchte nicht als Wahrsager dastehen, der sich jetzt bestätigt fühlt, aber das war natürlich naiv.
Ein deutlich höheres Wehrbudget scheint derzeit realistisch, es geht in Richtung der lange geforderten 1 Prozent des BIP. Was wird das Bundesheer damit anfangen?
Wir haben sehr klare Vorstellungen und eine detaillierte Planung, die auch eine gewisse Flexibilität erlaubt. Es sind im Wesentlichen drei große Pakete. Das ist erstens Schutz und Wirkung der Soldaten, der zweite Punkt ist die geschützte Mobilität, die unsere Soldaten in die Lage versetzten soll, ihre Aufträge möglichst unter Splitter- bzw. Panzerschutz zu erfüllen. Und das Dritte ist Resilizenz und Autarkie, indem wir die Kasernenstandorte entsprechend entwickeln wollen, um bei einem Blackout oder einer terroristischen Bedrohung über einen längeren Zeitraum handlungsfähig zu bleiben. Das alles haben wir in die einzelnen Waffengattungen heruntergebrochen. Zum Beispiel: Welche Drohnensysteme braucht das Bundesheer um die Aufklärungsfähigkeit zu verbessern, welche Wirkmittel müssen bei der Artillerie dazukommen?
Was leitet das Bundesheer aus der veränderten Situation ab?
Wir mussten eigentlich keine großen Änderungen vornehmen. Allerdings gibt es schon eine stärkere Akzentuierung der konventionellen klassischen Landesverteidigung. Das heißt, wir müssen jenen Fähigkeitskern, der noch zum Kampf der verbundenen Waffen in der Lage ist, ausbauen und modernisieren – letztlich auch, um einen glaubhaften Beitrag zur Weiterentwicklung der Europäsischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik leisten zu können. Das ist vielleicht etwas polemisch, aber es wird nicht reichen zu sagen, wir schicken nur die Militärmusik und die Gebirsgjäger, dass wir uns also nur in Nischen entwickeln. Ein Staat mit den Ressourcen Österreichs muss in der Lage sein, einen Verband für Auslandseinsätze zur Verfügung zu stellen, in letzter Konsequenz auch für eine europäische Aufgabe.
Die bisher angenommene Vorwarnzeit bei Konflikten von 8 bis 10 Jahren gilt wohl nicht mehr. Wie lange kann man sich im Herzen Europas noch auf Kriege vorbereiten?
Es gibt auch Ereignisse, für die es überhaupt keine Vorwarnzeit gibt, wie Terroranschläge. Das gilt auch für Krisen in der Nachbarschaft, wie wir jetzt feststellen mussten. Da lagen viele Analysen falsch, die von einer Drohkulisse ausgingen. Letztlich haben die amerikanischen Nachrichtendienste Recht behalten mit der Warnung vor einer konkreten Invasion. Aber auch hier betrug die Vorwarnzeit höchstens Wochen. Das illustriert die Notwendigkeit rascher Reaktionsfähigkeit, national wie auch international.
Wo sehen Sie die größte militärische Bedrohung für Österreich durch den Ukraine-Krieg?
Vorwiegend durch Auswirkungen von Krisen in der unmittelbaren Nachbarschaft. Stellen Sie sich ein Szenario vor, in dem Partnerstreitkräfte durch Österreich transitieren, um an einen Konflikt an der Peripherie teilzunehmen. Dann hätten wir diese Kräfte, natürlich bei Vorliegen einer politischen Genehmigung, zu schützen. Das heißt, wir hätten Terroranschläge, Unruhen und und ähnliche krisenhafte Entwicklungen im Inland zu verhindern. Eine unmittelbare konventionelle Bedrohung ist Gott sei Dank auch aus geografischen Gesichtpunkten unwahrscheinlich.
Finnland und Schweden drängen in die Nato, hierzulande erstickt die Politik jede Diskussion schon im Ansatz. Was sagt das aus über uns?
Die Diskussion um die Neutralität kann in einer Demokratie nicht verboten werden, aber es ist möglicherweise jetzt nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Eine so tiefgreifende Veränderung erfordert gewisse Voraussetzungen. In Finnland und Schweden fordert es die Mehrheit der Bevölkerung, bei uns ist das Gegenteil der Fall. Die Neutralität hat uns auch einen erfolgreichen politischen Status in Europa verschafft, letztlich auch als diplomatischer Vermittler. Sie schützt per se aber nicht vor Kriegen, sondern sie muss selbst militärisch geschützt werden. Im Gegensatz zur Schweiz nutzen wir jedoch unsere Neutralität auch sehr extensiv für Kooperationen und sie hindert uns nicht Mitglied der EU und bei Auslandseinsätzen präsent zu sein. Wir haben einen sehr, sehr aktiven Modus gefunden, mit dieser Neutralität umzugehen.
Die Neutralität schützt uns nicht, das Bundesheer ist dazu derzeit nicht in der Lage. Wer also schützt uns dann?
Die Beistandsverpflichtung der EU ist ein sehr starkes Instrument, formalrechtlich sogar stärker als der Artikel V des Nordatlantik-Vertrags. Er ist aber mit Ausnahme des Terroranschlags in Frankreich 2016 noch nie aktiviert worden, sodass der Lackmustest dafür fehlt. Die Mehrheit der europäischen Staaten sieht natürlich in der Nato jenes Instrument, das für Landesverteidigung den größten Wert hat – mit dem Rückhalt der USA.
Ein Rückhalt, auf den sich Europa zu sehr verlässt?
Ich glaube, es hat sich letztlich durch Afghanistan und die Ukraine die Erkenntnis verfestigt, dass Europa selbstständiger werden muss. Es muss eine strategische Autonomie geben, damit nicht bei einer Krise mittleren Formats gleich ein Rückgriff auf die USA stattfindet, die ihre Interessen vielleicht schon in Richtung Indopazifik fokussieren. Das wird jetzt zwar durch die Ukraine ein wenig relativiert, aber die generelle strategische Ausrichtung Amerikas ist China und der Ferne Osten. Daher muss Europa strategisch autonom werden. Wie das dann bündnistechnisch ausgestaltet wird und Nato und EU die Aufgaben aufteilen, das sind alles Entwicklungsschritte. Fakt ist: Es gibt in Europa die überwiegende Erkenntnis, dass es militärisch stärker und reaktioinsfähiger werden muss.
Braucht es dazu auch stehende EU-Truppen?
Es sollen ja jetzt die EU-Battlegroups verstärkt werden und eine neue Bezeichnung bekommen. Diese "Rapid Reaction Capacity" mit 5000 Mann und einer Bereitstellungszeit von einem Jahr ist ein Schritt, der vernünftig und richtig ist. Man kann das aber keineswegs als europäische Armee bezeichnen. Es ist ein Nukleus, der bestenfalls in der Lage ist, mit einem Ersteinsatz in einem Krisenszenario als "entry force" zu wirken und dann das Nachführen stärkerer Kräfte zu ermöglichen. Nur sollten wir das mit Sorgfalt und mit Bedacht weiterentwickeln, auch gemeinsam üben, damit in den unterschiedlichen Streitkräften die Zusammenarbeit und auch das Bewusstsein einer gemeinsamen Aufgabe forciert wird.
Sie wechseln nun als Leiter des EU-Militärausschusses nach Brüssel, haben in vier Jahren unter drei Ressortchefs gedient. Wie beschreiben Sie ihr Verhältnis zur Politik?
Ich sehe den Generalstabschef als den obersten militärischen Berater der politischen Ressortleitung. Seine Aufgabe ist es, Empfehlungen zu geben, Notwendigkeiten aufzuzeigen, Handlungsbedarf zu artikulieren und dort, wo den Empfehlungen nicht oder nur teilweise gefolgt wird, auch das damit verbundene Risiko auszudrücken. Er darf keine Konfrontation scheuen, sondern muss die Dinge auf den Tisch bringen. Ich habe versucht, diesem hohen Anspruch gerecht zu werden. Ob mir das gelungen ist? Sicher nicht vollumfänglich. Es sind immer politische Implikationen, wenn es ums Geld und um bestimmte Ausrichtungen geht. Wenn es nun tatsächlich zur angekündigten weiteren Budgeterhöhung kommt, sehe ich für das Bundesheer eine doch sehr, sehr gute Entwicklungsphase. Wir müssen allerdings auch auf das Personal schauen. Wir haben eine riesige Pensionierungswelle vor uns und müssen als attraktiver Arbeitgeber wahrnehmbar bleiben und uns weiterentwickeln. Es muss Attraktivität und Modernität ausgestrahlt werden, damit die jungen Menschen zu uns kommen.
Sie haben sich für die Wiedereinführung der verpflichtenden Truppenübungen stark gemacht. Die Regierung hält aber nichts davon.
Ich sehe das nicht so, dass es politisch nicht gewünscht ist, aber es ist momentan nicht Schwerpunkt der Diskussion. Wir haben jetzt für die Miliz dieses Modell "Mein Dienst für Österreich" mit sechs plus drei Monaten entwickelt, das allerdings auf Freiwilligkeit beruht. Mit verpflichtenden Truppenübungen könnte man eine kompaktere Ausbildung für die Miliz realisieren. Ich interpretiere die Frau Bundesminister aber nicht so, dass das für ewige Zeiten ad acta gelegt ist, sondern, dass man derzeit andere Prioritäten verfolgt. Die Abschaffung dieser verpflichtenden Truppenübungen 2006 kam ja auch nicht ganz von ungefähr, sondern es ist vielfach der Eindruck entstanden, dass die Intensität ein bisschen zu wünschen übrig lässt und dass die Vorbereitung und Ausgestaltung auch am Geldmangel gelitten hat. Daher muss man bei einer Wiedereinführung vor allem auf die Qualität achten.