Frau Stadträtin, wir sind mit der U-Bahn am Protestcamp vorbeigefahren. In jungen Jahren hätten Sie hier wohl Ihr Zelt aufgeschlagen. Was trennt Sie als ehemalige Grüne heute von den Grünen?
ULLI SIMA: Die Frage ist, was trennt mich von den Aktivisten. Ich setze Grüne nicht mit Aktivistinnen gleich. Bei Global 2000 waren wir immer zum Gespräch bereit. Ich versuche seit Wochen, mit den Aktivistinnen ins Gespräch zu kommen. Ich bekomme nur Absagen.
Die Besetzerinnen und Besetzer vermissen von der Stadt Respekt.
SIMA: Ich versuche, ihnen die Hand zu reichen, aber das wird immer ausgeschlagen.
Sie ließen Klagsdrohungen an Jugendliche verschicken. Was ist da schiefgelaufen?
SIMA: Ich habe mich entschuldigt. Es ist Ausdruck einer gewissen Verzweiflung. Wir wollen die Voraussetzung für eine klimafitte Stadtentwicklung schaffen. Nach sechs Jahren ist die Umweltverträglichkeitsprüfung, die die Errichtung der Stadtstraße als Verbindungsstraße vorsieht, abgeschlossen. Das Projekt wurde von meinen Vorgängern geplant, ich komme wie die Jungfrau zum Kind. Wenn wir von vorne beginnen, dauert es wieder sechs Jahre. Für Wien ist das keine Option.
Frau Ministerin, haben Sie Verständnis für die Verzweiflung Ihrer ehemaligen Mitstreiterin?
LEONORE GEWESSLER: Wovor ich jedenfalls besonderen Respekt habe, ist eine Generation, die sich für die Zukunft einsetzt, weil sie Angst vor der Klimakatastrophe hat. Es geht ihr wie mir darum, ob wir auf einem gesunden Planeten weiter gut leben und wirtschaften können.
Sie zeigen Verständnis für die Besetzer und ihre Blockade?
GEWESSLER: Was sie einfordern, ist eine gute Zukunft. Das entspricht dem, was wir in der Evaluierung der Autobahnprojekte auch gemacht haben. Wir haben hinterfragt, ob Entscheidungen, die Jahrzehnte alt sind, noch stimmig und vernünftig sind. Wir haben vor zwei Wochen einen Brandanschlag auf das Camp erlebt, das muss man wirklich auf das Schärfste zurückweisen. Es hat mich erstaunt, dass der Stadt Wien eine Verurteilung so schwerfiel.
SIMA: Das ist niemandem schwergefallen. Gewalt ist nie ein Mittel der politischen Auseinandersetzung. Ich tue mir nur mit der Undifferenziertheit schwer: dass jede Straße böse ist. Leonore, du übersiehst, dass wir die U-Bahn bis zur Seestadt verlängert haben. Dass es einen Schnellbahnanschluss gibt. Im Bezirk Donaustadt, wo die Seestadt liegt, lebten in den Neunzigern 90.000 Leute, jetzt 200.000. Trotz der großen Öffi-Dichte werden immer einzelne Autofahrten dazukommen.
GEWESSLER: Die Frage ist doch, braucht es für einzelne Autofahrten eine vierspurige Autobahn? SIMA: Das ist nicht mir eingefallen, sondern das Ergebnis der Umweltverträglichkeitsprüfung. Da müssen wir nichts mehr evaluieren. Das Ergebnis liegt auf dem Tisch.
Frau Ministerin, warum wollen Sie der Seestadt, die als ökologische Musterstadt konzipiert ist, die Anbindung an ein hochrangiges Straßennetz verwehren?
GEWESSLER: Wir haben eine Klimakrise und müssen uns fragen: Was bedeutet das für die Lebensqualität in einer Stadt, wenn diese sich auf 45 Grad aufheizt? Wir haben eine rasante Bodenversiegelung. Die Krise erfordert mutige Entscheidungen. Viele der Annahmen aus der UVP haben sich mittlerweile als falsch erwiesen. Wir haben früher immer versucht, mit einer Straße das Problem von zu viel Verkehr zu lösen. Mehr Straßen führen zu mehr Autos und zu mehr Verkehr. Wir haben deswegen entschieden, den Lobautunnel durch das Naturschutzgebiet nicht zu bauen. Wir suchen für den Nord-Abschnitt Alternativen und gescheitere Lösungen.
Heißt was für die Stadtstraße?
GEWESSLER: Wenn die Stadt Wien zum Schluss kommt, sie braucht diese unbedingt für die Stadtentwicklung, werden wir diese zwei Anschlussstellen auch bauen. Aber jede UVP kann man auch ändern, wenn man bessere Lösungen findet.
SIMA: Wenn es denn so einfach wäre!
GEWESSLER: Die Frage ist ja nicht, ob es einfach ist, sondern ob man will.
SIMA: Die Stadtstraße ist von zwei grünen Vorgängerinnen (Anm.: Vassilakou/Hebein) geplant worden, von mir gar nichts. Die haben die Trassierung und die UVP gemacht. Wenn wir eine Neue machen, bedeutet das: zurück an den Start. Damit haben wir einen mehrjährigen Baustopp des gesamten Seestadtprojekts und keinen sozialen Wohnbau. Das ist keine Option für uns.
GEWESSLER: Du weißt aber auch, dass eine Änderung schneller gehen kann.
SIMA: Das ist nicht wahr. Wenn ich den Radweg verlängern will, stimmt es. Wenn man aber die Kapazitäten halbieren will, muss man bei Null beginnen.
GEWESSLER: Die Stadt Wien hat sich enorm ambitionierte Ziele gesetzt, gerade im Klimaschutz und im Verkehr, wo wir eine gegenteilige Entwicklung beobachten. Die Stadt Wien will die Einpendler, die mit dem Auto kommen, bis 2030 halbieren und ein Viertel weniger Autoverkehr in der Stadt. Dafür haben wir die Kapazitäten im Straßennetz. Unsere Expertinnen und Experten können sich morgen zusammensetzen. Wir brauchen nicht mehr Kapazität, eine zusätzliche Autobahnverbindung, und da müssen wir bei der Wahrheit bleiben: Der Lobautunnel war nie ein grünes Projekt.
Ist eine Straße weltanschaulich per se schlecht?
GEWESSLER: Das ist keine Frage der Weltanschauung. Die Klimakrise ist nun einmal Realität. Deshalb haben wir uns alle bundesweiten Verkehrsprojekte differenziert angeschaut. Eines ist klar: Mehr Infrastruktur bringt mehr Verkehr. Das sagt jeder Verkehrsplaner.
SIMA: Bitte, wir reden hier von der Stadtstraße, von Grünen konzipiert. Sie ist eine Gemeindestraße mit Tempo 50 und engen Kurven. Sie war als Autobahn gedacht, wurde von den Vorgängerinnen redimensioniert und verbindet die Seestadt mit der Tangente.
GEWESSLER: Das ist eine vierspurige Straße, die fühlt sich an wie eine Autobahn und sieht aus wie eine. Auch wenn Tempo 50 gilt, ist das keine Straße, wo man daneben gern mit dem Rad fährt. Es stimmt, dass die Stadt sehr vorausschauend gehandelt und als erstes die U-Bahn in die Seestadt verlängert hat, ehe man zu bauen begann. Diesen Weitblick braucht es jetzt auch.
SIMA: Die Debatte ist scheinheilig, denn in Oberösterreich hast du sehr wohl eine Schnellstraßenumfahrung im Mühlviertel genehmigt. Dort gibt es dieses Thema nicht, während bei der Stadtstraße, die tiefer gelegt ist, alles in Frage gestellt wird.
Hat es damit zu tun, dass die Grünen in Oberösterreich in der Regierung sitzen, in Wien aber nicht mehr? Kritikerinnen und Kritiker sagen, Ihr Vorgehen sei Vergeltung für die Ausbootung.
GEWESSLER: Die These wird nicht realistischer, wenn man sie wiederholt. Sie können die Evaluierung auf 250 Seiten nachlesen. Wir haben uns jedes Projekt genau angeschaut und differenziert entschieden. Es tut mir leid, aber gerade im Verkehrsbereich müssen wir anfangen, Dinge anders zu denken.
SIMA: Das tun wir in Wien.
GEWESSLER: Ich weiß, es ist unangenehm, wenn man bei einem Projekt die Stopptaste drückt. Das ist nicht lustig. Wer schon einmal in einem Bus bei einer Vollbremsung gestanden ist, weiß, dass das nicht angenehm ist. Es ist aber immer noch gescheiter, als aus der Kurve zu fliegen. Baut man Straßen, macht man das Autofahren attraktiver. Am Ende stehen wir nicht in einer Straße, sondern in zwei Straßen im Stau. Wenn man die Öffis ausbaut, wird das Öffi-Fahren attraktiver. Dort müssen wir investieren.
SIMA: Spannend, dass das Prinzip für Wien, aber nicht für Oberösterreich gilt. Mir ist es lieber, wenn die Leute sich in klimafreundlichen Grätzln ansiedeln, wie hier in der Seestadt, statt draußen im Speckgürtel, wo es keine U-Bahn gibt und jeder ein Auto hat.
Frau Ministerin, Sie meinen, die U-Bahn reiche. Der Billa, Spar oder Hofer kann aber in der Früh nicht die Milchpackerln mit der U-Bahn in die Geschäfte bringen?
GEWESSLER: Der Spar liefert ja jetzt auch schon. Die Leute, die hier wohnen, haben vermutlich alle Kühlschränke. Die sind auch schon geliefert worden. Wir haben in Österreich eines der dichtesten Straßennetze Europas, wir haben sicher keinen Mangel an Straßen.
SIMA: Wir bauen Wohnraum für 60.000 Menschen. Das ist eine Stadt in der Größe von St. Pölten. Niemand würde St. Pölten errichten und sagen, sie brauchen keine einzige Straße. Es ist unfair, eine Zubringerstraße in einen Topf zu werfen mit Autobahnen quer durchs Land.
Frau Ministerin, hat der Individualverkehr überhaupt einen Platz in Ihrem Weltbild?
GEWESSLER: Klimaschutz ist kein Weltbild, sondern die Voraussetzung dafür, dass wir in dem Land noch gut leben können. Ich komme vom Land, aus einem kleinen Ort in der Steiermark. Die prägende Erinnerung an meine Jugend ist das Warten auf den Bus. Wir haben dort wie da einen Handlungsbedarf. Wir werden in der Zukunft noch Auto fahren. Mein Schwager arbeitet Schicht in der Steiermark, er wird seine Nachtschicht von einem kleinen Ort zum nächsten auch in Zukunft noch mit dem Auto, einem emissionsfreien Auto, bewerkstelligen. Grundlegendes: Meine Nichten werden mich in 20 Jahren fragen, was hast du gemacht, um der Krise etwas entgegenzusetzen? Ich möchte nicht sagen müssen, mir hat in entscheidenden Momenten der Mut gefehlt.
Frau Sima, auch Sie haben eine Tochter. Wird sie einmal sagen, Sie hätten mutiger sein sollen?
SIMA: Ich glaube, ich bin mutig. Es geht um günstigen Wohnraum. Wenn zusätzliche Menschen herkommen, brauchen wir zusätzliche Mobilität. Ich sehe das nicht als Widerspruch. Wir führen jetzt das Parkpickerl überall ein und gehen jetzt auch das Projekt der autofreien Innenstadt an. Dazu brauchen wir ein Kamerasystem, damit nur jene, die dort wohnen oder was hinliefern müssen, hineinfahren können, Taxifahrer, die Müllabfuhr. Den Autobesitz in der Stadt überflüssig zu machen, das ist auch mein Ziel.
GEWESSLER: Auch ich habe kein Dienstauto in Wien. Ich nütze und genieße die Öffis.
Aber Sie haben ein Privatauto.
GEWESSLER: In der Familie gibt es ein kleines E-Auto. Mit dem 365-Euro-Ticket hat Wien ein wegweisendes Projekt auf den Weg gebracht. Wir müssen es schaffen, unser Verkehrssystem vom Kopf auf die Füße zu stellen. Da reichen Maßnahmen der Vergangenheit nicht aus. Wir haben es auch einmal gescheit gefunden, eine Autobahn auf den Karlsplatz zu bauen oder beim Gürtel eine Autobahn auf Stelzen zu errichten.
Frau Sima, der Konflikt weckt alte Assoziationen: Die SPÖ aus Hainburger Zeiten, die Betonpartei. Schmerzt Sie das?
SIMA: Natürlich tut das weh. Das schmerzt politisch. Wir sind beim Camp vorbeigefahren, und man kann mit freiem Auge erkennen, dass es sich hier nicht um die Au handelt. Es gibt keinen einzigen Baum dort.
GEWESSLER: Die Stadtstraße ist ein Projekt der Stadt Wien. Sie muss entscheiden. Wo ich verantwortlich bin, habe ich entschieden, dass der Lobautunnel nicht mehr zeitgemäß ist.
Beharren Sie auf dem Tunnel, Frau Stadträtin?
SIMA: Wir haben das Thema, dass über die Tangente jeden Tag 230.000 Fahrzeuge fahren. Das ist die meistbefahrene Straße Österreichs. Das wird in den nächsten zehn Jahren auf 260.000 ansteigen. Das ist nicht meine Studie, sie wurde unter Maria Vassilakou erstellt. Wien ist die einzige Großstadt, in der der gesamte Verkehr quer durch die ganze Stadt geht, die einzige Großstadt in Europa, die keine Umfahrung hat.
GEWESSLER: Aber wir müssen auch ehrlich sein. Wenn die Stadt Wien ihre Ziele bis 2030 erreichen möchte, reichen diese Kapazitäten. Und wir wissen beide, dass es hier um die Menschen geht, die in die Stadt fahren, nicht um den Transit.
SIMA: Das stimmt nicht. Wir sind nicht gewillt, den gesamten Transitverkehr über die Tangente abzuwickeln. Wir werden Maßnahmen setzen.
Wie in Tirol?
SIMA: Ja, wie in Tirol. Wir werden schauen, wo wir wie beim „Immissionsschutzgesetz Luft“ (IGL) ansetzen können. Und was Lobau betrifft: Ich möchte für Wien eine Umfahrung, so wie in allen anderen Großstädten auch. Ich will nicht den ganzen Verkehr quer durch die Stadt haben. Das ist mein Anliegen und das vieler Bürger. Gewessler: Da können sich deine und unsere Experten morgen zusammensetzen und sagen, was das jetzt heißt.