In der Bergluft von Alpbach atmen Sie nach eineinhalb Jahren Pandemie befreit auf?
ANDREAS TREICHL: Ja, es tut gut. Ich war heute schon um fünf Uhr früh wandern.
Was haben Ihnen Ihre drei Söhne nach Alpbach mitgegeben, was hier nach Corona neu anzudenken wäre für die nächste Generation?
Sie wünschten sich, dass die Jugend bei den wesentlichen Themen mit am Tisch sitzt. 100 Stipendiaten sagen hier, direkte Begegnung sei unersetzbar. Wegen der Sicherheit sind es weniger als früher, aber man merkt bei allen große Freude, sich wieder sehen zu können.
Ohne Impfungen gäbe es das Europäische Forum nur digital. Ihr Gast Biontech-Mitbegründer Christopher Huber sieht den Impfstoff als Sieg der Wissenschaft über Corona. Die Leute zu überzeugen, gelang der Politik noch nicht.
Leider wirken in vielen Ländern Politiker dem entgegen und verunsichern die Menschen massiv.
Der Klimafolgenforscher Johan Rockström sieht Klimawandel und Virenseuche gleichermaßen der Überstrapazierung der Umwelt entspringen und die Erde am globalen sozialen Kipppunkt.
Selbstverständlich stehen Gesundheit und Umwelt in einem ganz engen Zusammenhang, aber darüber hinaus hat auch die Globalisierung der Wirtschaft massiven Einfluss. Wir müssen zugeben, dass wir nicht bedacht haben, dass mit der Globalisierung der Wirtschaft eine Globalisierung der Gesundheit einhergehen muss.
Rockström, der auch via Netflix die Grenzen der Belastbarkeit beschwört, rief diese Woche Politiker weltweit auf, sich der Bedrohung anzunehmen. Zwei Drittel der Menschen der G20-Staaten seien laut Umfrage in ernster Sorge. Warum zögern Politiker noch?
Ähnlich wie man es bei der bei Corona-Krise gesehen hat, gibt es auch zur Klimakrise in verschiedenen Ländern und Fraktionen divergierende Positionen. Die Frage der Umwelt verlangt eine Prioritätensetzung.
Für die Grünen ist das in der Bundesregierung klar. Was raten Sie dazu Kanzler Sebastian Kurz?
Das Umweltthema ist eine Herausforderung, die Österreich nicht alleine lösen kann. Aber es kann einen wichtigen Beitrag leisten. Der wirkliche Konflikt besteht in den Auswirkungen auf die Wirtschaftspolitik und das soziale Gefüge, wenn man das Thema Umwelt ganz nach oben setzt, was auch richtig und notwendig ist. Alle drei Prioritäten kann man nicht gleichzeitig optimal bedienen, eine geht zu Lasten der anderen. Da traut sich die Politik selten drüber und sucht immer Kompromisse. Wenn die Situation so ernst ist, wie Rockström sie schildert, kommt man um Priorität für die Umwelt nicht herum.
Sie luden auch die französische Bioethikerin und Philosophin Corine Pelluchon nach Alpbach ein, die ein neues Verständnis des Zusammenlebens von Mensch, Tier und Natur fordert. Man könne nicht jetzt Klimaschutz machen und Biodiversität später. Das teilen Sie für künftige Enkelkinder?
Keine Diskussion! Ich bin dazu leider ein Laie aber ich glaube, dass zwischen Coronakrise und Biodiversität ein direkter Zusammenhang besteht durch die Zurückdrängung von Fauna und Flora durch die Menschen.
Angesetzt haben Sie auch eine Diskussion mit Kunst-Uni-Rektor Gerald Bast und Fridays-for-Future-Aktivistin Katharina Rogenhofer über „The Art of Radical Change“. Was ist Ihre Erwartung an Kunst, zum radikalen Wandel beizutragen?
Die Kunst und ihre Vertreter haben immer einen sehr großen gesellschaftlichen Einfluss und können auch einen sehr starken politischen Hebel bewirken. Der Respekt vor Künstlern, und übrigens auch von Sportlern, ist oft viel größer als jener vor Vertretern der Politik oder der Wirtschaft.
Die Kunst des Machbaren, vom Klima- bis zum Gesundheitsschutz, hängt auch von der von Ihnen oft zitierten „finanziellen Gesundheit ab“. Mit den aufgetürmten Staatsschulden ist ein Inflationsschub unausweichlich?
Derzeit steigt die Inflation bei tief bleibenden Zinsen, das ist für alle Staaten, aber besonders für die hoch verschuldeten eine besonders günstige Situation. Für die Bürger und ihre Ersparnisse hingegen ist es eine sehr traurige Situation. Man kann es auch als eine indirekte Steuerbelastung bezeichnen.
Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz, der ebenso nach Alpbach kommt, hat lange die Inflationsängste zerstreut, aber er warnt vor einer neuen Finanzkrise durch Kryptogeld. Das bereitet auch Ihnen mehr Sorge als die Geldschwemme von Fed und EZB?
Nein. Bitcoin, aber auch alle anderen Kryptowährungen sind nur sehr eingeschränkt als Währung zu bezeichnen, sondern sind ein alternatives Investitionsinstrument, zudem sind sie sehr energieintensiv und dienen als Zahlungsmittel auch für den Schwarzmarkt. Das Interessante ist die Blockchain-Technologie dahinter, die in den nächsten Jahrzehnten in vielen Wirtschaftsbereichen sehr wichtig werden wird.
Wie kann Europa technologisch Tempo gegenüber USA und China zulegen? Während man hier den E-Mobil-Schalter umlegen muss, zeigt Elon Musk Roboter und AI-Software für autonomes Fahren.
Europa hat noch immer ein unfassbar hohes technologisches und wissenschaftliches Potenzial und wird daher auch in Zukunft eine Rolle spielen. Das hoffe ich auch für die europäischen Universitäten. Das kann aber nur gelingen, wenn die Staaten und private Kapitalgeber in einer optimalen, europäischen Form zusammenkommen, um die Schwächen im Bildungssystem auszugleichen. Mit Airbus hat es Europa geschafft durch eine gute Zusammenarbeit zwischen Staaten und Privatindustrie, der amerikanischen Flugzeugindustrie einen großartigen Konkurrenten entgegenzustellen. Das ist allerdings schon eine Weile her, in den neuen Technologien der letzten zwei Jahrzehnte schaut das derzeit sehr traurig aus und Europa muss agieren. Ein Problem dabei ist die Schwäche der europäischen Kapitalmärkte und die daraus resultierende starke Abhängigkeit von Bankfinanzierung. Die neuen Technologien eignen sich nicht so gut für die Bankfinanzierungen, da sie wesentlich stärker auf immateriellen Werten (Daten sind immaterielle Werte) beruhen und weniger auf Anlagevermögen. In dieser Richtung muss in Europa bald etwas passieren.
Was macht den Kapitalmarkt flüssig für Europas junge Talente?
Das Eigenkapital eignet sich viel besser für die Finanzierung von Start-ups und von neuen Technologien als Bankenfinanzierung. Europa soll den USA nicht nacheifern. Aber Europa sollte sich das Ziel setzen, wie in so vielen Bereichen, ein Gleichgewicht in der Finanzierung der Wirtschaft zu schaffen, also 50 Prozent von Bankfinanzierung und 50 Prozent vom Kapitalmarkt, anstatt sowie jetzt 75 Prozent Bankfinanzierung. Dann würden wir uns bei der Finanzierung von Bildungseinrichtungen und Start-ups wesentlich leichter tun.
Auch österreichische Start-ups wie Bitpanda, GoStudent oder Bitmovin zeigten zuletzt auf.
Das sind erfreuliche Pflanzen, aber es müsste hundertmal so viele geben, als wir haben. Leider kommt noch immer ab einer bestimmten Finanzierungshöhe das Kapital aus anderen Ländern. Es braucht daher einen europäischen Kapitalmarkt, das kann nicht Brüssel lösen, sondern nur die Nationalstaaten gemeinsam mit den EU-Institutionen. Leider ist das Thema für die Politik in den Nationalstaaten nicht sehr interessant.
Auch bei der Taliban-Machtergreifung in Afghanistan gibt Europa ein zerfahrenes Bild ab.
Subsidiarität hat große Vorteile, aber für ein einheitliches Krisenmanagement eben nicht. In Bezug auf die Situation in Afghanistan gibt Europa ein trauriges Bild ab, aber meiner Meinung nach stehen die USA, Europa in keiner Weise nach.
Der Europa-Gedanke muss wegen Corona an vielen Grenzen haltmachen. Was gibt Ihnen Zuversicht für ein starkes Europa?
Es muss auch für EU-Befürworter wie mich möglich sein, Kritik offen anzusprechen. Um Probleme zu lösen, muss man zunächst einmal zugeben, dass es eines gibt.
Adolf Winkler