Am 27. August 2015 bin ich, an einem sonnigen, freien Tag während des Forums Alpbach, auf den Großen Galtenberg gestiegen. Am Weg zum Gipfelkreuz auf bescheidenen 2.425 Metern hatte ich mein Handy ausgeschaltet. Und seit ich es unten, zurück im Tal, vor nicht ganz fünf Jahren wieder eingeschaltet habe, habe ich das Gefühl, dass Österreichs Politik in einem Dauerzustand permanenter Instabilität feststeckt, in dem eine Krise unweigerlich zu der nächsten führt.

Als ich an diesem 27. August das Telefon wieder eingeschaltet habe, prasselten die Eilt!-Meldungen von Medien und Agenturen im Sekundentakt herein. Es war der Tag, an dem die größte Tragödie auf österreichischem Boden seit Jahrzehnten publik wurde, die Flüchtlingstragödie von Parndorf. 71 Menschen – 59 Männer, 8 Frauen und vier Kinder –, die in einem Schlepperlastwagen in Ungarn elendiglich erstickt waren, wurden im Burgenland nahe der Grenze aufgefunden.

Bei der Pressekonferenz am Mittag dieses 27. August traten zwei Personen miteinander auf, die in den kommenden Wochen, Monaten und Jahren Schlüsselrollen spielen sollten: Die Innenministerin, Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) und der Landespolizeikommandant des Burgenlandes, ein gewisser Hans Peter Doskozil.

Wilde Jahre

Man mag einwenden, dass jener Tag im August ein willkürliches Datum ist, um den Beginn der wildesten Jahre der zweiten Republik anzusetzen: Die Migrationskrise bestand schon Monate davor, die Überfüllung der Traiskirchner Erstaufnahmestelle etwa war Dauerthema.

Aber die These sei erlaubt, dass es ohne diese Katastrophe auch ganz anders hätte kommen können. 71 Tote in Österreich, das war ein Schock, der der Gesellschaft bis ins Mark ging: „so sind wir nicht“, könnte man die Stimmung im Land in den späteren Worten von einem zusammenfassen, der damals noch Gemeinderat und Universitätsbeauftragter in Wien war.

Zeithistorische Spekulationen sind immer schwierig, aber wer vermag zu sagen, ob die Welle der „Willkommenskultur“ gegenüber Zehntausenden, die später im selben Jahr an den Grenzen und Bahnhöfen standen, so kräftig ausgefallen wäre ohne die Bilder jenes LKWs. Und ob wiederum ohne die Bilder dieser Szenen das Pendel bei den folgenden Wahlen so stark in die andere Richtung ausgeschlagen wäre?

Nachbeben

Es kam jedenfalls, wie es kam – die Geschichte der Migrationskrise von 2015 können Sie in unserer Sonntagsbeilage nachlesen.
Was ihr folgte, waren politische Nachbeben ungeahnter Größenordnung: Beim ersten Durchgang der Bundespräsidentenwahl im April 2016 kamen Rudolf Hundstorfer (SPÖ) und Andreas Khol (ÖVP) – beide Art und Biografie nach respektable Kandidaten – nur knapp auf ein zweistelliges Ergebnis, deklassiert von der Newcomerin Irmgard Griss, dem spröden grünen Professor Alexander Van der Bellen und dem FPÖ-Kandidaten Norbert Hofer, der aus dem Stand mehr als 35 Prozent der Stimmen erhielt.

Ein Erdbeben, dessen prominentestes Opfer Werner Faymann wurde. Nach siebeneinhalb Jahren Kanzlerschaft in der bis dahin größten Wirtschaftskrise der Republik trat er nach Hundstorfers Niederlage, ausgepfiffen am 1. Mai, zurück. Ihm folgte der damalige ÖBB-Chef Christian Kern – auch er durch die Migrationskrise zu Prominenz gekommen.

Kerns kurze Kanzlerschaft war geprägt – und gelähmt – von der endlosen Bundespräsidentenwahl: Die erste Stichwahl, in der Van der Bellen Hofer nur knapp besiegte, wurde wegen Schlampereien in mehreren Wahlkreisen aufgehoben; ein für Oktober angesetzter Wahlgang musste defekter Kuverts wegen noch einmal verschoben werden: Erst Anfang 2017 bekam Österreich wieder einen Bundespräsidenten.

Aus für die Große Koalition

Damit war der Weg frei für die parlamentarische Arena: Kern versuchte, seiner Regierung ein Programm mit Wirtschafts- und Sozialschwerpunkt zu verordnen – was zwar der damalige ÖVP-Vizekanzler Reinhold Mitterlehner mittragen wollte, weite Teile seiner Partei hatten sich aber bereits innerlich aus der Koalition mit der SPÖ zurückgezogen.
Was in jenem Frühjahr 2017 hinter den Kulissen von Koalition und ÖVP passierte, ist mehrfach beschrieben worden: im Mai gab der Vizekanzler auf und machte Platz für Sebastian Kurz, der die Koalition umgehend beendete.

Kurz nahm den Schwung, den er als steter Kritiker der Entwicklungen von 2015 hatte, in eine Neuwahl mit – die ÖVP wurde stärkste Partei und entschloss sich zu einer Koalition mit Heinz-Christian Straches FPÖ. An einer Nebenfront flogen die Grünen aus dem Parlament – geschlagen von der Partei ihres Urgesteins Peter Pilz.

Es sollte nicht lange so bleiben: Schon vor der Wahl hatte Strache sich – wie wir heute wissen – ein Ei gelegt, das ihn Mitte 2019 zu Fall bringen sollte. Noch bevor die Regierung ihre größten Vorhaben (etwa eine große Steuerreform oder eine Umgestaltung des ORF) umsetzen konnte, implodierte die FPÖ in einem Feuerwerk aus Ibiza-Video und Spenden-Skandal. Innenminister Herbert Kickl (FPÖ) wurde zum ersten Minister der Republik, der vom Bundespräsidenten aus dem Amt entlassen werden musste.

Und dann kam Corona

Christian Kern hatte sich inzwischen eher unelegant aus der Politik verabschiedet, seiner Nachfolgerin Pamela Rendi-Wagner gelang es, Kurz samt dreier parteifreier Minister per Misstrauensantrag aus dem Kanzleramt zu schmeißen. Österreich bekam – nach schwieriger Vermittlung Van der Bellens – seine erste Kanzlerin, Brigitte Bierlein. Sie führte eine beispiellos beliebte Regierung an, deren Beliebtheit sich nicht zuletzt daraus speiste, dass sie es tunlichst vermied, Politik zu machen.
Und dann die letzten Monate: Kurz’ ÖVP saugte bei der Nationalratswahl im Herbst die verprellten FPÖ-Stimmen auf und ging gestärkt aus der Krise hervor. Die Grünen zogen auf Kosten Peter Pilz’ wieder ein und bildeten eine neue Regierung, Kurz II – die fünfte binnen fünf Jahren. Dann kam Corona.

Nein, fad war es nicht, zuletzt. Und alles, was Sie gerade gelesen haben, ist in weniger Zeit passiert als eine ordentliche Legislaturperiode dauert.