Das erfolgreiche Misstrauensvotum im Nationalrat und der Sturz der österreichischen Regierung waren am Dienstag Inhalt zahlreicher internationaler Pressekommentare:
"Frankfurter Allgemeine Zeitung":
"Die Kanzlerschaft des Sebastian Kurz ist Geschichte, jedenfalls vorerst. Im September, wenn die vorgezogene Nationalratswahl abgehalten wird, wird er wieder antreten und hoffen, mit einem solchen Vorsprung wieder an die Nummer eins gewählt zu werden, dass an ihm kein Weg vorbeiführt. Der Sonntag scheint ihm Grund zu dieser Hoffnung zu geben. Aber der Montag hat Kurz geschwächt, mehr als die ÖVP-Leute sich das möglicherweise selbst eingestehen mochten. Ihm fehlen der Kanzlerbonus und die internationale Bühne, auch die Ressourcen, die, bei allem Trennungsgebot, die Regierungsämter den Wahlkämpfern zur Verfügung stellen. Das ist der Grund, warum SPÖ und FPÖ sich zur Abwahl von Kurz zusammengetan haben (...)
Kurz, dessen Fans ihn wieder als Kanzler wollen, wird es bei der Mobilisierung leichter haben. Er mag auf diesen Effekt gesetzt haben. Für ihn stellt sich aber nach dem Wahlkampf die Frage: Und jetzt? Mit wem hat er es sich noch nicht verscherzt? Wie lässt sich noch einmal eine Mehrheit bilden, um Projekte zu verfolgen, die über das gegenseitige Verhindern im großkoalitionären Kleinklein hinausgehen?"
"Süddeutsche Zeitung" (München):
"In den zehn turbulenten Tagen, die zwischen der Veröffentlichung des Strache-Videos und dem erfolgreichen Misstrauensantrag gegen die Regierung von Bundeskanzler Sebastian Kurz im Parlament lagen, haben - mit dem Bundespräsidenten Van der Bellen als rühmlicher Ausnahme - fast alle Beteiligten persönlichen und parteitaktischen Interessen den Vorrang gegeben vor der Staatsräson.
Die Logik dahinter war meist destruktiv: Wer ins Trudeln gerät, sucht keinen sicheren Grund, sondern hält Ausschau danach, wen er noch mit hinabziehen kann. Vereint zeigen sich die Parteien höchstens in der Lust am Chaos. Das ist so kurzfristig gedacht, dass der Horizont des Taktierens am Ende nicht mehr der Wahltag im September, sondern nur noch der nächste Tag gewesen ist."
"Neue Zürcher Zeitung":
"Nur gut 500 Tage sind seit Kurz' Vereidigung vergangen, er ist der Kanzler mit der kürzesten Amtszeit. Damit sind nach dem Abgang der FPÖ auch die Reste seines grossen Projekts einer auf zwei Legislaturperioden angelegten rechtsbürgerlichen Regierung begraben im Sand von Ibiza. Dass ausgerechnet Österreichs 'Wunderwuzzi' der erste Kanzler ist, der vom Parlament aus dem Amt gehoben wird, ist bitter für ihn. Zufällig und aus reiner Missgunst geschieht es gleichwohl nicht. Kurz erhält auch die Quittung dafür, dass er das Parlament und die Oppositionsparteien in den letzten anderthalb Jahren mit Geringschätzung behandelt hat. Und doch ist der ÖVP-Chef durch den Vertrauensentzug nicht gedemütigt. Vielmehr ist die paradoxe Situation entstanden, dass er trotz dem unrühmlichen Ende seiner Regierung nur gewinnen konnte. Wäre der Misstrauensantrag gescheitert, hätte sich die Opposition blamiert, und Kurz hätte bis zur Neuwahl im Herbst einen Wahlkampf als Kanzler führen können. Stattdessen wurde er nun in eine Märtyrerrolle gedrängt."
"Die Welt" (Berlin):
"In Österreich müssen also Wahlgewinner den Hut nehmen, und eine Allianz aus Wahlverlierern bestimmt über die Geschicke des Landes. Nichts anderes bedeutet es nämlich, wenn sich die Sozialdemokraten der SPÖ mit den Freiheitlichen von der FPÖ zusammentun, um eine Regierung abzusetzen, deren Beliebtheit in der Bevölkerung weitaus größer ist als die eigene. Auch wenn die Sozialdemokratie damit vordergründig das Heft des Handelns an sich reißt, verschärft sie damit wohl nur die eigene Krise. Die SPÖ mag den bei ihr ungeliebten Kanzler vorerst losgeworden sein, die eigenen Probleme aber bleiben. Parteichefin Pamela Rendi-Wagner ist es bisher nicht gelungen, die Partei programmatisch zu erneuern."
"Bild" (Berlin):
"Seit 16.14 Uhr (27.5.) ist der jüngste Regierungschef der Welt der jüngste Altkanzler der Welt! Zumindest vorübergehend. Denn: Wenn man Kurz in diesen Tagen erlebt, ist eins klar: Dieser Mann will nach den Neuwahlen wieder Kanzler werden, er will es wieder allen zeigen. (...)
Er hat bereits sein erfolgreiches Team aus dem Jahr 2017 um sich versammelt, plant Auftritte im ganzen Land. Und durch die Ergebnisse bei der Europawahl sieht er sich bestärkt in der Auffassung, dass die österreichischen Wähler ihn als Bundeskanzler behalten wollten. Kurz' Berater sprechen von einem möglichen 'Märtyrer'-Effekt. Tatsächlich wird die SPÖ für ihr Abstimmungsverhalten in vielen österreichischen Medien kritisiert. Allerdings: Große EU-Auftritte als Kanzler, die automatische Medien-Öffentlichkeit, die Ressourcen im Kanzleramt - das wird künftig fehlen. Er ist jetzt wieder alleine auf seine Partei angewiesen."