Erstmals trat Sebastian Kurz als Bundeskanzler in der ORF-Pressestunde auf. Neben einer Bilanz des ersten türkis-blauen Regierungsjahres standen die Vorhaben der jüngsten Regierungsklausur (Steuerreform, Pflege), der Streit mit der Caritas, das innere Gefüge der türkis-blauen Koalition, der Schlagabtausch mit der Wiener Stadtregierung sowie die bevorstehenden EU-Wahl im Zentrum des Gesprächs.
Die Fragen stellten ZiB-Innenpolitikchef Hans Bürger und Hubert Patterer, Chefredakteur der Kleinen Zeitung. Zuletzt war Kurz als Außenminister in der Pressestunde.
Gleich Eingangs nutzte Kurz die Chance zur Werbung für seine Regierung: "Wir haben unsere Ziele eingehalten." Er verwies darauf, keine neuen Steuern und Schulden gemacht zu haben. Und versprach weitere Entlastungen ab 2021.
Patterer zitierte dann aus einem türkisen Wahlversprechen, wo steht, dass man gleich als erstes die kalte Progression abschaffen wolle. Dies wurde zuletzt aber verschoben. Finanzstaatssekretär Hubert Fuchs (FPÖ) kündigte bei der Regierungsklausur diesen Schritt erst für 2023 an. Denn auch die nächste Regierung werde eine schwarz-blaue sein. "Kokettieren Sie mit der Vergesslichkeit der Wähler?", fragte Patterer. Kurz entgegnete, dass man sehr wohl bereits kleinere Schritte gesetzt habe. Hans Bürger und Hubert Patterer konterten: Durch das Verschieben zahlen die Steuerzahler diese Entlastungen selbst. Patterer bezeichnete dies als "Taschenspielertrick".
Die gute Wirtschaftslage führte Kurz auf einen "guten Mix" zurück. Man profitiere von der guten Konjunktur und gehe sorgsamer mit Steuergeldern um. Und daher sei es auch möglich, keine neuen Steuern einzuheben. Dazu wolle Kurz das tatsächliche Pensionsantrittsalter an das gesetzlich vorgeschriebene anpassen. Denn hier gebe es eine beträchtliche Kluft.
Aber was, wenn sich die wirtschaftliche Lage eintrübt, wie finanziert die Regierung ihre Ziele dann? Man könne darauf vertrauen, dass sich die Regierung auch diesbezüglich Gedanken mache, erwiderte Kurz und bringt ein Beispiel: Auch die Reform der Mindestsicherung sei ein Schritt, der Geld spare und zugleich die Wirtschaft ankurble.
Zur Anmerkung von Fuchs, dass die aktuelle Regierung auch die nächste sein werde, wollte Patterer wissen: "Gefällt Ihnen dieser Hochmut?" Kurz hätte das so nicht formuliert, sagte er und bedankte sich zugleich für das Vertrauen der Wähler.
Hans Bürger lenkte das Gespräch schließlich auf den jüngsten Aufreger um den Bundeskanzler: "Wann stehen Sie für gewöhnlich auf?" Kurz fühlt sich in der Sache falsch verstanden. Er habe sich mit seinem Frühaufsteher-Sager nur auf Wien bezogen und das sei aus dem Kontext gerissen worden. Die Arbeitslosigkeit in Wien liege bei 13 Prozent, jeder zweite Mindestsicherungsempfänger sei Ausländer. Diese Entwicklung wolle der Kanzler bekämpfen und konstatierte: "Wenn man unangenehme Wahrheiten anspricht, reagierten viele mit unsachlicher Entrüstung." Wenn sich die SPÖ "ertappt" fühle, dann werde statt einer Sachdiskussion eine "Welle der Empörung" erzeugt, wies Kurz die Wiener Kritik an seiner Aussage zurück.
Patterer: "Sie suggerieren, dass Mindestsicherungsempfänger arbeitsunwillig sind." Kurz kann die Aufregung um seinen Sager nicht verstehen und fragt: "Ist es gut für eine Gesellschaft, wenn diese Menschen nicht aufstehen können oder wollen, weil sie die Mindestsicherung beziehen?" Es sei "Gift für unsere Gesellschaft", wenn arbeitende Menschen finanziell schlechter aussteigen als jene, die auf staatliche Unterstützung angewiesen sind.
Kurz rechnete daraufhin vor, dass ein Arbeiter mit drei Kindern schlechter gestellt sei als ein Mindestsicherungsbezieher mit drei Kindern. Ein Verkäufer mit drei Kindern bekomme inklusive aller Leistungen derzeit 2.500 Euro netto im Monat. Auf der anderen Seite bekomme eine Zuwanderfamilie mit drei Kindern, in der niemand arbeitet, in Wien 2.660 Euro Mindestsicherung. Es dürfe nicht sein, dass es attraktiver sei, nicht arbeiten zu gehen.
Zum Disput zwischen der FPÖ und der Caritas sagte Kurz: "Ich seh' mich als Arbeiter und nicht als Chef-Kommentator des Landes." Daher wolle sich der Bundeskanzler nicht zu jedem Thema äußern. Er halte aber nichts von der aggressiven Wortwahl der FPÖ in Richtung Caritas und haben gute Beziehungen zur Einrichtung.
Nach Einschätzung eines deutschen ZDF-Journalisten sei Kurz (auf europäischer Ebene) als Brückenbauer gescheitert, erwähnte Bürger und spielt damit vor allem auf das österreichische "Nein" zum Migrationspakt an - und die breite, internationale Kritik an Österreichs Ablehnung. "Das war für viele ein Tiefpunkt", sagte Patterer. Die EU stand wieder gespalten da. Kurz verwies darauf, dass es öfters Uneinigkeit in der Union gebe. "Es gibt einen Flüchtlingspakt der Uno, dem wir zustimmen. Dem Migrationspakt nicht." Da gebe es große Unterschiede. Auf den Vorwurf, die ÖVP habe sich in der Sache von der FPÖ leiten lassen, reagierte Kurz ablehnend. Auch andere Nationen sagten "Nein", die seien ja auch nicht von der FPÖ getrieben. Dass Österreich im Rahmen seines EU-Vorsitzes eine Rolle als "Schrittmacher" dieser Ablehnung innehatte, kommentierte Kurz nicht.
Eine Zusammenarbeit der FPÖ mit Rechtsparteien im Europaparlament ist für Kurz kein Problem. Eine rote Linie sei aber das Regierungsprogramm, das eine pro-europäische Ausrichtung der Koalition vorsehe. Für die ÖVP betonte Kurz, dass es im Europaparlament keine Zusammenarbeit mit Rechtsparteien geben werde, wohl aber mit Liberalen und Sozialdemokraten.
Wen die ÖVP als Spitzenkandidat für die EU-Wahl ins Rennen schicken will, wollte Kurz nicht verraten. Man werde die Liste aber rechtzeitig vorlegen. "Lassen Sie sich überraschen."