Wir sind keine Propheten. Doch die Hoffnung, dass das 21. Jahrhundert dem Ideal der Menschheit als Solidargemeinschaft nahekommt – ein Ideal, dem die Aufklärung, der Humanismus und das ökumenische Christentum wesentliche Energien zugeführt haben –, diese Hoffnung könnte sich als naiv erweisen. Das ändert nichts an der Vision, an Immanuel Kants Aufforderung zum „Ewigen Frieden“ aus dem Jahre 1795, wo vom anzustrebenden „Kosmopolitismus eines allgemeingültigen Rechtssystems“ die Rede ist: „Das Recht des Menschen muss heiliggehalten werden, der herrschenden Gewalt mag es auch noch so große Aufopferung kosten.“

Diese Aufopferung schließt in unserem Kulturkreis, dessen bekennerhafte Repräsentanten nicht müde werden, auf unseren christlichen Ursprung zu pochen, jedenfalls das Prinzip der Caritas mit ein. Daraus würde eine globale Praxis unbeirrbarer Nächstenliebe folgen, deren rechtliche Mindestform sich in der peinlichen Beachtung der Menschenrechte auszudrücken hätte. Demgegenüber scheint die Realität immer weiter von dem entfernt, was gerade unserer Kultur als „heilig“ vorschwebte: die Würde des Menschen, exemplarisch als „unantastbar“ angesprochen und festgeschrieben.

Trotz Seuchen, Hungersnöten, Obdachlosigkeit, Kriegshändeln, Klimawandel und religiösen Terrors nähert sich die Weltbevölkerung rasch der Acht-Milliarden-Grenze und wird laut Schätzungen der UNO im Jahr 2100 die Zehn-Milliarden-Grenze erreicht haben. Korrespondierend dazu versuchen bereits heute etwa 70 Millionen Menschen weltweit ihr Leben und das Leben ihrer Nächsten durch die Flucht aus den Todeszonen zu retten – Tendenz steigend.
Es ist das schiere Massenhafte dieses Vorgangs, das den Blick auf den Einzelnen regelrecht zu einer gutmenschlichen Grille werden lässt. Die Massen der Fliehenden und Flüchtlinge gelten als akute Bedrohung, obwohl sie in den Wohlstandswinkeln der Welt – wir gehören dazu – großenteils gar nicht wahrgenommen werden. Wo aber die Heere der Schutzsuchenden an unsere Tore klopfen, dort wird die Berufung auf die Menschenrechte geradezu als Anmaßung empfunden.

Und was jene Ärmsten der Armen betrifft, die mangels Mobilität gar nicht erst zu uns kommen, überlassen wir den Schutz der Menschenrechte internationalen Organisationen, deren Hilflosigkeit angesichts des andrängenden Elends und des Unwillens der Mächtigen rasch zunimmt.

Auf diese Weise wird das Bekenntnis zu den Menschenrechten zu einem Lippenbekenntnis: Menschenrechte sind Rechte, die Menschen zukommen, weil sie Menschen sind. Gerade deshalb handelt es sich um Rechte, die absolut gelten; sie können, da sie mit dem Menschsein unabdingbar einhergehen, niemandem abgesprochen werden, weder zur Gänze noch in Teilen. Ja, ich selbst kann mich meiner Menschenrechte nicht selbstherrlich entschlagen.

Die Kritik, dass man sich an dieser Stelle argumentativ im Kreis zu drehen beginne, ist oft genug geäußert worden: Ist nicht der Würdebegriff seinerseits abhängig von unserem Verständnis der Menschenrechte? Diese Kritik enthält auch ein gerüttelt Maß an Sophisterei.

Denn wenn ich außerstande bin, einen Angriff auf die Würde meines Nächsten zu erkennen – als drastische Beispiele: Versklavung, Folter, Schändung, willkürlicher Freiheitsentzug –, dann ist mein ethisches Sensorium defekt oder ideologisch verzerrt. Eine Vielfalt dehumanisierender Methoden ist bekannt, es geht stets um jene Gruppen, deren Angehörige als Menschen zweiter oder dritter Klasse sichtbar gemacht werden sollen. „Zigeuner“, „Katzelmacher“, „Tschuschen“ – das waren unsere Parias, einmal abgesehen vom „ewigen Juden“.

Womit wir endgültig in einem menschenrechtlich verfassten Staat, nämlich bei uns selbst, angelangt sind. Die derzeitige Regierung ist, soweit ihre bürgerlichen Bestände reichen, liberal-konservativ, allerdings mit einem rechtsnationalen Koalitionspartner, der den Innenminister stellt. Ein direkter Angriff auf die Menschenrechte ist nicht zu erwarten.

Doch es zeichnet sich ab, dass Schritt für Schritt ein Bild von Menschen erzeugt wird, die unseren humanitären und sozialstaatlichen Schutz nur sehr beschränkt verdienen. Dass sich die Regierung kaum bemüht, Asylwerber dem Volk als Menschen mit gleicher, unbedingter Würde nahezubringen – darin liegt kein lässliches Versäumnis; es ist politische Strategie.

Es handelt sich um einen forcierten Sensibilitätsabbau, um die Blockierung von Mitgefühl, begleitet von abwertenden Begriffen und Bildern.

Bekleidungs- und Essensvorschriften, das familiäre und sexuelle Verhalten, ja selbst religiöse Zeremonien bis hin zur Gebetshaltung werden ganz allgemein zu Auslösern des Anstoßnehmens. Ganze ethnische Gruppen, vornehmlich Dunkelhäutige, zurzeit besonders Afghanen und Tschetschenen, werden als Drogendealer und Vergewaltiger ins Blickfeld gerückt.

Durch all diese und weitere selektive Darstellungen von Menschen, ihren Absichten und Handlungen wird der Eindruck erweckt, wir befänden uns bereits in einer kollektiven Notwehrsituation, die die Frage der Menschenrechte als untergeordnet erscheinen lässt.
Ist dies nicht die mitlaufende Botschaft der Grenzschließungs- und Abschiebungsrhetorik, soweit sie diejenigen betrifft, die zu Hause um Leib und Leben fürchten müssen – sei es durch Verfolgung, grausame Internierungsbedingungen oder einfach durch den Umstand, dass das Nötige an Essen und sauberem Trinkwasser fehlt?

Mag sein, ich formuliere zu scharf, zu undifferenziert. Aber ich tue es nicht, um rechtens bestehende Sorgen kleinzureden, sondern weil ich darauf aufmerksam machen will, dass es unter keinen Umständen zulässig ist, Menschen sukzessive zu dehumanisieren – sie als Subjekte vorzuführen, die aufgrund ihrer fragwürdigen und dabei unbelehrbaren Natur oder unauslöschlichen kulturellen Prägung keine volle Menschenrechtsfähigkeit besitzen.

Unsere Regierung signalisiert durch das Tun und Unterlassen ihres rechtspopulistischen Segments, auch durch ihr Doppelspiel – bürgerliche Contenance da, Kulturkampfalarmismus dort –, dass der Begriff der Menschheit als Solidargemeinschaft weitgehend Ausdruck einer verantwortungslosen „Gesinnungsethik“ sei. Auf diese Weise sind wir alle, ob gewollt oder ungewollt, mittlerweile Teilnehmer eines Vorspiels zur gesellschaftlichen Verhärtung und Einigelung geworden.

Es besteht die Gefahr, dass dieses Spiel, das in Wirklichkeit für viele Menschen tödlicher Ernst ist, mit der Absage an jenes Humanitätsideal endet, aus dem sich ein starkes Menschenrechtskonzept und damit ein öffentliches Leben ohne Hass und Furcht speisen.