Sie waren immer ein scharfer Kritiker der ÖVP. Jetzt sitzen Sie in der Regierung, müssen Sie sich jetzt einen Maulkorb umhängen?

HARALD MAHRER: Ich bin für den Erneuerungsprozess der Partei mitverantwortlich. Ich sehe nicht ein, warum es einen Maulkorb geben muss.

Sie haben im Februar gemeint, die ÖVP muss aus dem Dornröschenschlaf herauskommen, sonst wird sie bedeutungslos. Stimmt der Befund immer noch?

MAHRER: Ich verspüre eine unglaubliche Aufbruchstimmung. Ich habe das Gefühl, wir sind aufgewacht.

Schön, aber damit ist kein einziges Problem gelöst.

MAHRER: Man muss aufwachen, um aus dem Bett aufzustehen und das Tagewerk zu beginnen. Man kann natürlich auch aufstehen und schlafwandeln.

Eine ähnliche Stimmung gab es unter Josef Pröll mit der Perspektivengruppe. Beide sind kläglich gescheitert. Warum soll es jetzt funktionieren?

MAHRER: Die Umsetzung der Perspektivengruppe ist mit dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise zusammengefallen. Die damalige Regierung ist von der Krise eingeholt worden. Es ist immer eine Frage, wie viele Bälle man gleichzeitig in der Luft halten kann. Ich weiß, dass man damals was machen wollte.

Herr Staatssekretär, Pröll ist doch nicht an der Weltwirtschaftskrise, sondern an den Heckenschützen innerhalb der Partei gescheitert.

MAHRER: Widerstände gibt es immer, denn Veränderung heißt Bewegung, und Bewegung ist unbequem. Entscheidend ist aber auch, wie viel Energie man in Veränderungen investiert.

Nochmals, warum soll es jetzt gelingen?

MAHRER: So top war das Führungsteam der ÖVP noch nie aufgestellt, mit Reinhold Mitterlehner, Hans Jörg Schelling, Sebastian Kurz. Vier Regierungsmitglieder sind Selbstständige. Wir haben die Talsohle durchschritten. Das Momentum ist jetzt da.

Die Heckenschützen sind aber nicht verschwunden, sondern nur abgetaucht.

MAHRER: Heckenschützen gibt es überall. Die Frage lautet: Wie groß ist die Allianz für eine Veränderung? Aus der bunten Mannschaft der vielen Solisten muss man einen Chor machen, der gemeinsam singt.

Sind die Bünde noch zeitgemäß?

MAHRER: Absolut, denn das sind Organisationen, wo sich viele Mitglieder heimisch fühlen. Wir müssen uns allerdings vom kleinsten gemeinsamen Nenner verabschieden und die größtmögliche Vielfalt suchen.

Wohin soll die Reise der ÖVP gehen?

MAHRER: Die ÖVP soll sich von den traditionellen Streitereien: "Sind wir liberal, konservativ, christlich-sozial?" verabschieden und muss Politik auf Sicht machen - also vorausgehen, aber die Bürger mitnehmen. Sie muss bürgerlich, staatstragend und weltoffen sein. Das muss man an konkreten Projekten festmachen. Die Bürger wählen uns ja nicht für esoterische Ideen.

Wenn der Evolutionsprozess scheitert, hat die ÖVP keine Zukunft mehr?

MAHRER: Wenn die Weiterentwicklung scheitert, wird es für die ÖVP sehr schwierig. Die Erneuerung ist ein langer Prozess, der sich in die DNA der Partei übertragen muss. Das darf keine PR-Aktion sein. Wir bewegen uns vielfach noch im 20. Jahrhundert und sind noch nicht im 21. Jahrhundert angekommen.

Muss die ÖVP in gesellschaftspolitischen Fragen liberaler werden, bei Bildung oder Familie?

MAHRER: Wir erleben heute viele bunte Milieus, ein Großteil unserer Werthaltungen kommt aus der Zeit des Lagerdenkens. Ich bezweifle, ob alle unsere Ansichten auf der Höhe der Zeit sind. Ich denke an Bildung, Familie, Kinderbetreuung. Es bedarf einer neuen Welt- und Zukunftsoffenheit. Das ist der Schlüssel: offen zu sein und nicht zu sagen, wir haben die Weisheit mit dem Löffel gegessen.

Sollte es eine gemeinsame Schule der 10- bis 14-Jährigen geben?

MAHRER: Das kann ich nicht sagen, denn wie in allen anderen Fragen wird dies einer der spannenden Programmpunkte sein. Ich will der Diskussion nicht vorgreifen.

Sie sind für die Unis zuständig. Sollte man die Einführung von Studiengebühren wieder diskutieren?

MAHRER: Dazu findet sich nichts im Regierungsprogramm. Daran halte ich mich.

Was ist unter Spindelegger schief gegangen?

MAHRER: Wir waren in einer Pattsituation. Neue Gesichter bringen einen neuen Schwung. Ich komme aus der Wirtschaft und Wissenschaft. Man geht immer ein Risiko ein, wenn man was Neues wagt. Wenn man verharrt, wird nichts passieren. Man muss dauernd in Bewegung bleiben.

Sie sind ein guter Bekannter von Sebastian Kurz. Ist Mitterlehner ein Übergangsparteichef?

MAHRER: Mitterlehner ist der Mann, der die ÖVP nach vorne gebracht hat.

Sollte er Spitzenkandidat bei der nächsten Wahl sein?

MAHRER: Er ist ganz klar die Nummer eins.

Auch bei der nächsten Wahl?

MAHRER: Die Frage stellt sich nicht. Wir haben einen Obmann, der eine Aufbruchsstimmung erzeugt und mutige Entscheidungen getroffen hat.

Doch ein Übergangskandidat?

MAHRER: Er wird das Team bis zur nächsten Wahl 2018 führen.

Sie haben vor ein paar Monaten gefordert, dass es bei der Wahl des ÖVP-Chefs eine Urwahl unter allen Mitgliedern geben sollte. Sollte es bereits beim nächsten Mal eine solche Urwahl geben?

MAHRER: Ich bin nach wie vor der Meinung, es ist eine sehr gute Idee, die breite Parteibasis einzubinden. Das gibt es bereits in mehreren CDU-Bundesländern und auch in Südtirol. Es schafft auch eine breite Legitimation. Wir werden das im Evolutionsprozess diskutieren. Ich persönlich wäre dafür, dass der nächste ÖVP-Chef in einer Urwahl gewählt wird.