Wie wollt ihr das nennen? Seid ihr denn wahnsinnig?" Eigentlich hatte László Nagy es für eine gute Idee gehalten, am Eisernen Vorhang zwischen seinem Heimatland Ungarn und dem neutralen Nachbarland Österreich ein "Paneuropäisches Picknick" zu veranstalten. Aber seine politischen Freunde, die Spitzenleute des "Ungarischen Demokratischen Forums" in Budapest, waren sofort alarmiert, als der Mann aus der Kleinstadt Sopron ihnen die Pläne vortrug. Paneuropäisch? Ob er denn noch nie von einer "Paneuropa-Union" gehört habe, der Organisation des Kaisersohns Otto von Habsburg? Nein, hatte er nicht. "Paneuropa", also "ganz" oder "All-Europa", das schien László Nagy ein schönes Wort für eine gute Idee zu sein. "Heute", sagt der Mitorganisator des Picknicks 25 Jahre später, "muss ich sagen: Die in Budapest hatten völlig recht." Ein "Riesenfehler" sei der Name gewesen.

Fünfundzwanzig Jahre schon kämpft der heute 57-jährige Chemiker einen aussichtslosen Kampf um die Erinnerung an ein welthistorisches Ereignis. Am 19. August 1989, knapp drei Monate vor dem Fall der Berliner Mauer, nutzten Hunderte Ostdeutsche eine kleine grenzüberschreitende Zusammenkunft nahe dem Neusiedler See zur ersten Massenflucht aus der DDR. Ebenso lange schon reklamiert die "Paneuropa-Union" des vor drei Jahren verstorbenen Habsburgers für sich die Ehre, den "ersten Stein aus der Mauer geschlagen" zu haben, wie Helmut Kohl das Ereignis einmal nannte. "Ich verstehe das nicht", sagt Nagy, der in seinem Häuschen am Rande von Sopron sorgfältig alles dokumentiert hat, was über das Picknick je gesagt und geschrieben wurde. "Warum lässt man den Ruhm nicht den kleinen Leuten, die das alles organisiert haben?"

Tor zur Freiheit

An dem großen Tag haben viele Leute in Westungarn und im Burgenland gelernt, was Freiheit ist. Selbst auf österreichischem Boden konnten viele Flüchtlinge es noch nicht fassen, erzählt Alexander Wind, pensionierter Volksschullehrer in St. Margarethen im Burgenland. "Ihr braucht nicht mehr zu laufen, ihr seid in Freiheit, in Österreich!", schrieben St. Margarethener auf ein Pappschild. "Die Ostdeutschen haben sich weggeduckt, wenn sie einen Hochsitz gesehen haben", erinnert sich Wind.

Als das Tor schon wieder zu war, abends nach sechs, hatte ein Bauer aus dem Burgenland auf der anderen Seite noch eine Familie aus der DDR aufgegabelt, die sich an den ungarischen Grenzern nicht vorbeigetraut hatte. Der Bauer lud sie auf den Traktor und überredete die Grenzer: "Geh, seid's so liab, macht's des Tor noch amol auf!" Sie machten. Im ersten Haus ein paar Kilometer hinter der Grenze, bei der Familie Gollubits, gab es Wasser und zu essen, solange der Vorrat reichte. Als dann aber am späten Nachmittag der überraschte Herr Gollubits nach Hause kam, fuhr ein gewaltiger Schrecken durch die Gästeschar. Er war der Dorfgendarm und trug Uniform. "Da haben sie gedacht, sie sind in eine Falle gegangen."

Eigentlich hätte es einfach ein Völker verbindendes Speckbraten werden sollen. 3000 Flugblätter hatten die Oppositionellen aus Sopron gedruckt, 1500 auf Deutsch, 1500 auf Ungarisch, und diesseits der Grenze rund um die Kleinstadt sowie jenseits, im Burgenland, hinter Windschutzscheiben gesteckt. Sie hatten sich bei den Behörden abgesichert, erst bei den ungarischen und dann - reichlich spät - auch bei den österreichischen: Menschen von diesseits und jenseits der Grenze sollten auf einem Feld gemeinsam picknicken. Zu dem Anlass sollte ein Tor auf der alten Landstraße zwischen Sopron und St. Margarethen im Burgenland für drei Stunden geöffnet werden, von 15 bis 18 Uhr.

Zur Überraschung der fünf oder sechs ungarischen Grenzer am Tor kamen dann plötzlich, kurz vor drei Uhr nachmittags, Hunderte Ostdeutsche auf sie zugelaufen, über eine kleine Kuppe im Weg, sodass man sie erst im letzten Moment sah. "Dreißig Sekunden Zeit hatte ich zum Nachdenken", gab Árpád Bella, der Kommandant des Grenzpostens, später zu Protokoll. Bella entschied richtig, trat zur Seite und schaute zu, wie die Leute das morsche, knapp mannshohe Tor aus Brettern und Draht einfach aufdrückten. Familien mit kleinen Kindern strömten über die Grenze. 661 Personen zählte der deutsche Bundesgrenzschutz, als die Flüchtlinge noch am selben Abend mit einem Sonderzug in Bayern eintrafen.

Und der Kaisersohn nickte

László Nagy hat die Vorgeschichte des Picknicks nicht nur miterlebt, sondern auch akribisch festgehalten - vergebens, wie er erfahren musste. Im März 1989 hatte Otto Habsburg, Europa-Abgeordneter der CSU, im ostungarischen Debrecen einen Vortrag gehalten. Beim Schoppen danach trug ihm einer der dortigen Aktivisten, Ferenc Mészáros, ein "Picknick am Eisernen Vorhang" vor; ein Teil der Gäste solle diesseits, ein Teil jenseits sitzen. Habsburg und die versammelten Honoratioren nickten wohlwollend. Damit hatte es sich.

Mészáros meinte es aber ernst. Gehör fand er erst Wochen später bei Mária Filep. Die Mitstreiterin aus Debrecen verständigte Freunde in Sopron, und jetzt nahm die Idee Form an. Zur Paneuropa-Union, die vom mitteleuropäischen Hochadel dominiert war, gehörte von den Beteiligten niemand, und die wenigsten wussten, dass es so etwas überhaupt gab. Weil aber Otto in Debrecen so schön über das vereinte Europa gesprochen hatte, trugen die Organisatoren dem Kaisersohn die Schirmherrschaft über das Ereignis an - ihm und Imre Pozsgay, dem entschiedensten Reformer aufseiten der ungarischen KP. Pozsgay sicherte das Picknick politisch ab. Habsburg und seine Paneuropa-Union dagegen taten nichts, sagt Nagy. "Dabei hätten wir Hilfe gebrauchen können", so der Mann aus Sopron, "besonders in den Verhandlungen mit den Österreichern."

Die Ostdeutschen

Seit Anfang 1988 durften die Ungarn frei reisen. Die Anlagen mit Stacheldraht und Wachttürmen dienten seither nur noch dazu, Bürger der brüderlichen DDR an der Flucht in den Westen zu hindern. Schon im Mai 1989 setzten die Reformer in Ungarns KP durch, dass die ohnehin erneuerungsbedürftigen Befestigungen abgebaut wurden. Ende Juni dann wurde noch einmal ein Stück Stacheldraht montiert - nur damit die Außenminister Ungarns und Österreichs es für die Fotografen noch einmal feierlich durchschneiden durften. Im Hochsommer, nach dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking, beschlossen mindestens 70.000 Ostdeutsche, womöglich auch viel mehr, aus dem Ungarn-Urlaub nicht mehr in die DDR zurückzukehren. Die meisten blieben einfach am Plattensee, Tausende kampierten in Budapest erst bei der westdeutschen Botschaft, dann in einem Pfarrhof. "Die Behörden standen unter Zugzwang", erinnert sich Alexander Arnot, damals BRD-Botschafter in Ungarn. "Im Herbst und Winter hätte man die Menschen nicht zelten lassen können."

Dass Ostdeutsche kommen könnten, hatten die Organisatoren überhaupt nicht auf dem Schirm; für sie war das Picknick einfach ein Stück kleiner Grenzverkehr. "Total überrascht" war auch die spärlich vertretene Pro

minenz. Schirmherr Otto von Habsburg war gar nicht gekommen. Er schickte in Vertretung seine Tochter Walburga, heute Reichstagsabgeordnete in Schweden. "Als wir von einer Pressekonferenz in Sopron kamen, war das Tor schon auf, die ersten DDR-Flüchtlinge waren schon durch", erzählt sie heute. Ein Fotograf sorgte dafür, dass das Tor dann wieder geschlossen und von Walburga Habsburg-Douglas und einem ungarischen Staatssekretär wieder geöffnet werden konnte.

Seine Tochter sei es gewesen, die die Idee zum Picknick hatte, erklärte Otto Habsburg später. Walburga mag das heute nicht bestätigen. Gefragt aber, wer das Ganze organisiert habe, sagt die Kaiser-Enkelin unverdrossen: "Die Paneuropa-Union Österreich und die Paneuropa-Union Ungarn." Davon sei "kein Wort wahr", entgegnet László Nagy und schüttelt fassungslos den Kopf. "Sie haben bloß rund um das Picknick ihre Fähnchen aufgehängt!", ereifert er sich, "und das, obwohl wir Organisatoren keine Embleme irgendwelcher Vereine oder Parteien dabeihaben wollten." In einer offiziellen Darstellung der österreichischen Paneuropa-Union wird der Konflikt um Urheberschaft oder Trittbrettfahrerei elegant zum Verschwinden gebracht: "Auf der Wiese des Picknickgeländes stand ein Wachtturm, den kurz vorher noch ungarische Grenzsoldaten benutzt hatten", heißt es in einem Bericht über den 19. August: "Jetzt wehte da oben eine Paneuropa-Fahne." Und genau so, als "Paneuropa-Picknick" des Politikers Otto Habsburg, ist das Ereignis in mindestens zehn deutschsprachigen Büchern festgehalten.

"Politisch", sagt László Nagy, "habe ich mit der Paneuropa-Union kein Problem." Aber mit "der Politik" hat er schon eines. Für den damals jungen Mann aus Sopron, der sein Leben lang schon Ärger mit den Kommunisten hatte, geht es darum, wem die Geschichte gehört: den kleinen Leuten oder den Großkopferten. Wie die Antwort ausfällt, hat er gelernt.