Die Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft in Österreich löst heute in der Geschichtswissenschaft kaum noch Kontroversen aus. Die 60 Millionen Toten des Krieges, darunter die Millionen, die der Vernichtung zum Opfer fielen, die Konzentrationslager und die Gestapowillkür sind unbestreitbare Tatsachen.

Geht es aber um die Vorgeschichte, um die Jahre von 1933 bis 1938, um die Ursachen und die Hintergründe der nationalsozialistischen Machtübernahme in Österreich, so scheiden sich bis heute die Geister. In welchem Ausmaß war Österreich das Opfer der aggressiven Außenpolitik Hitlerdeutschlands und wie groß war der Anteil von innen?

Nach dem Zusammenbruch der Habsburgermonarchie und der Verteilung Europas entlang von Machtinteressen stellte Clemenceau, der französische Ministerpräsident, fest: "Österreich, das ist der Rest." In diesem Staat, den in dieser Form nur wenige wollten und dem es nie gelang, seinen Bewohnern ein positiv besetztes Österreichbild zu vermitteln, war politischer Konsens nur selten zu finden. Die Weltwirtschaftskrise, die Ausschaltung des Parlaments 1933, der blutige Bürgerkrieg vom Februar und der Naziputsch im Juli, all das schuf eine gespaltene Gesellschaft.

So standen einander in der Diktatur des Ständestaats zumindest drei Bevölkerungsgruppen gegenüber: Da gab es das Lager der Regimetreuen, gestützt auf die katholische Kirche, auf einen Teil der Beamtenschaft und auf konservative ländliche Strukturen. Links davon stand eine Arbeiterbewegung, bestehend aus der alten Sozialdemokratie und aus jenen, die sich von ihr abgewandt hatten, weil sie im Kampf gegen den Faschismus zu zurückhaltend agierte. Das waren (nicht nur) die Kommunisten, die illegal stärker waren als je in der Legalität. Und rechts vom Regime hatte der ebenfalls meist illegale Nationalsozialismus alle kleineren Gruppen schon aufgesogen und ging aktionistisch gegen den Ständestaat vor. Ohne genaue Größenordnungen bestimmen zu können, so ist doch deutlich, dass keines dieser drei Lager die Mehrheit der österreichischen Bevölkerung hinter sich hatte.

Aber so viel ist klar: Selbst wenn die Sozialdemokraten den "Anschlußparagraphen" 1933, nach Hitlers Machtübernahme, aus ihrem Parteiprogramm gestrichen hatten, waren sie noch lange keine österreichischen Patrioten. Es gab also, zumindest bis kurz vor 1938, keine Mehrheit für ein selbstständiges Österreich. Nazis und Regimetreue waren hingegen keine Demokraten. So hatten weder Demokratie noch Eigenstaatlichkeit ein mehrheitsfähiges Fundament als mögliches Bollwerk gegen Hitler.

Die Außenpolitik Nazideutschlands gegenüber dem kleinen Nachbarstaat verfolgte die vorgeblich "nationale" Vereinigung. Es standen aber auch ganz massive ökonomische Interessen hinter der immer aggressiver werdenden Außenpolitik. Deutschlands Arbeitsbeschaffungspolitik hatte die Deckung der Währung ruiniert und die Gold- und Devisenreserven aufgebraucht. Da lagen aber in Wien die Reserven der Österreichischen Nationalbank, die die restriktive Wirtschaftspolitik des Ständestaats angehäuft hatte, um vieles höher als alles, worüber das Deutsche Reich noch verfügte. Und es gab ein jüdisches Großbürgertum, dessen Vermögen die Begehrlichkeiten weckte.

Die Ereignisse vom März 1938 waren daher ambivalent. Es handelte sich um eine Invasion durch eine feindliche Armee, gegen die (bedauerlicherweise) wegen der Aussichtslosigkeit kein militärischer Widerstand geleistet wurde. Insofern war Österreich zweifellos Opfer. Es handelte sich aber auch um eine Entscheidung in einem innenpolitischen Machtkampf, in dem die Nazis teilweise auch schon vor dem Eintreffen der deutschen Truppen die Macht von innen heraus übernahmen. Graz ist dafür ein gutes Beispiel.

Massendemonstrationen schon Wochen vor dem "Anschluss", die Machtübernahme in der Stadt, bevor ein einziger deutscher Soldat am Thalerhof landen konnte, die Beflaggung des Rathauses, all das macht einen guten Teil der Bevölkerung zum Mittäter. Und vieles von dem, was wir heute mit dem Schrecken des Nationalsozialismus verbinden, musste nicht aus Deutschland importiert werden.

Der Antisemitismus hatte hier seine kräftigen eigenen Wurzeln und unsere Universitäten taten sich durchaus hervor, wenn es um die Fundierung von Rassenwahn ging. Dass die Verfolgung der hier lebenden Juden so unmittelbar einsetzen konnte, dass die Universitäten so rasch melden konnten, "judenfrei" zu sein, dass der Antrag gestellt werden konnte, sich "Adolf Hitler Universität" nennen zu dürfen, dass Graz sich "Stadt der Volkserhebung" nennen konnte - all das waren keine Importprodukte aus Deutschland, sondern war über Jahre hier gewachsen.

Natürlich ist man in der Rückschau klüger. 75 Jahre nach dem sogenannten "Anschluss" weiß man um die Konsequenzen und urteilt aus sicherer Distanz. Jene, die in der Zeit leben und handeln mussten, agierten aus ihrem Wissensstand und ihrer damaligen individuellen Erfahrung. Meine Mutter etwa war noch nicht 14 Jahre alt, als die Ereignisse abliefen. Ihr Vater, ein Bergmann, hatte als alter Sozialdemokrat die Arbeitslosigkeit und die politische Ausschließung des Ständestaats erfahren und erhoffte sich von der Eingliederung ins Deutsche Reich Arbeit.

Meine Mutter war in den ersten Apriltagen unter den jubelnden Menschenmassen, als Hitler Graz besuchte. Der Bund Deutscher Mädchen erfüllte auch rasch ein paar Jungmädchenträume: Lager auf der Pack, Ausflüge, Gemeinschaft und schließlich eine Lehrstelle. Für sie war der März 1938 anders als etwa für David Herzog, den Rabbiner und Hochschullehrer, anders als für viele jene Menschen, die auch meine Mutter später kennen und schätzen lernte.