Am Anfang ist ein Witz. Danach kommt Thomas Brezina. Und beim dritten Video ist man schon mittendrin im Wiener Bandenkonflikt zwischen Syrern und Tschetschenen, auch wenn der Clip für Außenstehende rätselhaft bleibt. Ein paar Mal weiter gewischt erklärt ein Muslim, wie man seinen Imam stärkt und beim nächsten Clip, es ist der 16. seit Thomas Brezina, landet man bei Abul Baraa, einem deutschen Salafisten. Er soll auch bei der Radikalisierung des verhinderten Attentäters auf das Taylor-Swift-Konzert eine Rolle gespielt haben.

Es ist nur ein Beispiel, wie man durch die chinesische Video-Plattform TikTok gelotst wird. Was jeder angezeigt bekommt, ist aber individuell. Dafür sorgt der Algorithmus, der streng gehütet wird. Das Ziel ist bei allen Plattformen dasselbe: Angezeigt wird nicht, was relevant ist, sondern was die Nutzer möglichst lange auf der Plattform hält. Das kann TikTok besonders gut, die durchschnittliche Verweildauer beträgt 95 Minuten pro Tag – um 50 Prozent länger als Instagram.

Flut von Propagandavideos

Der Suchtcharakter von TikTok hat die EU auf den Plan gerufen. Am Montag wurde bekannt, dass das Unternehmen ein von der Kommission beanstandetes Belohnungssystem abgeschafft hat. Es gibt eine zweite Besonderheit: Bei keiner anderen Plattform landen die Nutzer so rasch in einem inhaltlichen Tunnel. Anders formuliert: Wer Thomas Brezina schnell wegwischt, sich aber Salafist Baraa länger ansieht, wird immer mehr Salafisten angezeigt bekommen.

Welche Rolle TikTok bei der Radikalisierung des 19-Jährigen wirklich gespielt hat, ist noch unklar. Bei den Bandenkonflikten in Wien wird der Plattform jedenfalls eine nicht unbeträchtliche zugemessen, und nach Beginn des Kriegs in Gaza nach dem Terrorangriff der Hamas wurde TikTok von islamistischen Propagandavideos geflutet.

Nicht nur eine Plattform

Während der Anteil der über 40-Jährigen, die TikTok nutzen, unter zehn Prozent liegt, ist die Plattform bei Jugendlichen stark verbreitet. Mehr als zwei Drittel nutzen sie. Das korreliert mit der Tatsache, dass die Dschihadisten immer jünger werden, wie der Terrorexperte Peter Neumann herausrechnete. Von 58 an Anschlagsplänen Beteiligten waren 38 Teenager.

Auch wenn die chinesische Plattform zuletzt in den Fokus rückte, ist sie kein isoliertes Problem, zumal die meisten Jugendlichen parallel mehrere Anbieter nutzen. Vom oben erwähnten Abul Baraa sind auf Instagram und TikTok kurze Clips zu sehen, auf Youtube unterhält der Salafist einen eigenen Kanal, auf dem Videos deutlich länger sind. Telegram dient zur geheimen Kommunikation untereinander.

Die Dokumentationsstelle für politischen Islam hat im Vorjahr in einer Studie die Aktivitäten von drei muslimisch-identitären Gruppierungen mit zusammen rund 350.000 Kontakten auf den diversen Plattformen unter die Lupe genommen. Sie attestiert ihnen eine parallelgesellschaftliche Dynamik. Auch Misstrauen gegenüber dem Rechtsstaat und seinen Institutionen werde gefördert.

Auch die UNO ist alarmiert

Dazu kommt die Rückkopplung mit der Offline-Alltag. Eine der Gruppierungen, „Muslim Interaktiv“, hatte heuer zu zwei Demonstrationen in Hamburg aufgerufen, zu denen rund 1000 Personen kamen. Auf einer davon wurde zu einem Kalifat aufgerufen. Einige salafistischen Influencer treten zudem als Gastprediger in Moscheen auf. Auch wenn sich der gescheiterte Attentäter von Wien primär im Internet radikalisiert hat, könnten auch zwei Gebetshäuser in Wiener Neustadt und Wien eine Rolle spielen, wie das „Profil“ berichtet.

Da sich die Anschlagspläne gegen ein Konzert des derzeit wohl größten Musikstars richtete, ist die weltweite Aufmerksamkeit groß. Am Freitag meldete sich auch die UNO zu Wort. „Es ist ein guter Beweis dafür, dass die Radikalisierung durch die Nutzung sozialer Medien Anlass zur Sorge gibt“, sagte eine Sprecherin.

Kein Verbot geplant

Das österreichische Parlament hat sich vor dem Sommer mit dem Phänomen TikTok beschäftigt. ÖVP und Grünen brachten einen Entschließungsantrag für eine „multidimensionale Awarenessoffensive“ ein. Bei der Koordinierungsstelle für Extremismusprävention und Deradikalisierung, die an den Staatsschutz DSN angedockt ist, wird seither eine Herangehensweise erarbeitet, um Kinder und Jugendliche besser vor Radikalisierung auf TikTok zu schützen.

Sollen darüber hinaus auch Maßnahmen gesetzt werden? Einige afrikanische Staaten wie Somalia und der Senegal haben aus Sicherheitsgründen TikTok verboten. Das will aktuell keine Partei. Die ÖVP sieht auf Basis des Digital Services Act der EU die Kommission gefordert, Missstände zu beseitigen. Grünen und Neos verweisen auf die Stärkung von Medienkompetenz, SPÖ und FPÖ antworteten nicht.