Seit bald 30 Jahren gehört Österreich der Europäischen Union an, und immer wieder sind sich die jeweiligen Koalitionspartner in EU-Fragen in die Haare geraten. Nun sind die Zwistigkeiten um eine Facette reicher.

Jedem EU-Vorsitzenden bleibt das Recht vorbehalten, informelle Ministerräte im eigenen Land abzuhalten – im Gegensatz zu den regulären Sitzungen in Brüssel. Seit gestern tagen die Innen- und Justizminister der EU-Mitgliedsstaaten informell in Brüssel. Wegen Orbáns Kreml-Visite haben jene Staaten, die an Russland grenzen, angekündigt, dem informellen Treffen fernzubleiben.

In Österreich konnte – und wollte – sich die Koalition nicht auf eine einheitliche Vorgehensweise einigen. So kam es, dass Innenminister Gerhard Karner gestern nach Ungarn reiste, Justizministerin Alma Zadić in Österreich bleib. Zadić schickte stattdessen einen hohen Beamten nach Budapest.

Anarchie in der Koalition

Schon länger ist Türkis-Grün kaum noch um ein geeintes Auftreten bemüht, mit dem Zwist um den Ungarn-Boykott erreicht die innerkoalitionäre Anarchie einen neuen Höhepunkt. Jeder Partner tut, was er will – beziehungsweise was mit Blick auf den anlaufenden Wahlkampf am günstigsten erscheint. In dieses Bild passte am Montag auch eine von Kanzler Karl Nehammer (ÖVP) einberufene Pressekonferenz. Auf dem Wiener Donauturm berichtete der ÖVP-Chef von geplanten Straßenbauprojekten, darunter etwa der dreispurige Ausbau der A 9 südlich von Graz. Die Grünen rund um Verkehrsministerin Leonore Gewessler hätten diese mit ihrer „dogmatischen Politik“ ausgebremst, bemängelte Nehammer. „Die Ministerin hat ihre gesetzlichen Aufgaben nicht erfüllt.“ Zuletzt sorgte Gewesslers Nein zur geplanten S 18 in Vorarlberg für Ärger in der ÖVP.

Immer wieder wird Gewessler zum Reibebaum für den Koalitionspartner. Für die vielleicht schwerwiegendste Krise sorgte im Juni ihr Alleingang beim EU-Renaturierungsgesetz, die ÖVP zeigte sie daraufhin wegen Amtsmissbrauchs an. Im Frühjahr hatte bereits der Klimaplan, den die grüne Ministerin in der EU-Kommission eingereicht hatte, für Konflikte gesorgt. Es habe sich um keinen nationalen Plan, sondern einen „Gewessler-Plan“ gehandelt, konstatierte Verfassungsministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) und zog das Papier wieder zurück.

ÖVP will sich von Grünen abgrenzen

Eingeläutet wurde das Ende der türkis-grünen Harmonie bereits im Vorjahr. Spätestens seit Nehammers „Kanzlerrede“ im März 2023 ist die ÖVP offensichtlich um Abgrenzung von den Grünen bemüht. Damals bezeichnete er Österreich als das „Autoland schlechthin“, in Bezug auf den Klimawandel gebe es „keine Beweise für eine Untergangsapokalypse“.

Trotzdem: Für einzelne Beschlüsse können sich ÖVP und Grüne immer wieder zusammenraufen. So gesehen nimmt die Koalition immer mehr den Charakter einer On-off-Beziehung an. Jüngst passierte ein üppiges Gemeindefinanzpaket den Nationalrat. In den letzten Wochen der Koalition sollte noch ein Personalpaket, das den EU-Kommissar, die Führungsebene in Nationalbank und FMA umfasst, fixiert werden.

Nehammer 
ärgert sich über Gewessler
Nehammer ärgert sich über Gewessler © AFP
ABD0032_20240711 - WIEN - ÖSTERREICH: vlnr.: Frauenministerin Susanne Raab und Innenminister Gerhard Karner am Donnerstag, 11. Juli 2024, im Rahmen einer Präsentation zum Thema
ABD0032_20240711 - WIEN - ÖSTERREICH: vlnr.: Frauenministerin Susanne Raab und Innenminister Gerhard Karner am Donnerstag, 11. Juli 2024, im Rahmen einer Präsentation zum Thema "Gewaltschutzstrategie zur Koordinierung und Vernetzung" im Bundeskanzleramt in Wien. - FOTO: APA/GEORG HOCHMUTH © APA / Georg Hochmuth
Karner fährt 
nach Ungarn, 
Zadić nicht
Karner fährt nach Ungarn, Zadić nicht © APA