Wahlkampfzeit ist Spatenzeit. Und so rückte Bundeskanzler Karl Nehammer, flankiert von Familienministerin Susanne Raab und Niederösterreichs Landeschefin Johanna Mikl-Leitner (alle ÖVP), im Vorfeld der EU-Wahl in die 1000-Seelen-Gemeinde Stetteldorf am Wagram aus, um als Symbol für den Startschuss der Kindergartenoffensive den Grundstein für einen neuen Kindergarten zu legen. In Wirklichkeit markierte der Spatenstich aber keinen Anfang. Vielmehr befindet sich das Land seit Jahren in einer tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderung.

Im Jahr 2002 wurde nicht einmal jedes zehnte Kind unter drei Jahren in einem Kindergarten betreut. Die Betreuungsquote lag bei schlanken 8,7 Prozent. Eine knappe Generation später ist fast schon jedes dritte Kind in dem Alter im Kindergarten. Bis 2030 sollen nun weitere 4,5 Milliarden Euro in den Ausbau fließen, für den sich Österreich auch Ziele gesteckt hat – kurioserweise aber drei unterschiedliche.

Barcelona-Ziele knapp verfehlt

Denn bereits seit dem Jahr 2002 verfolgt die Republik die sogenannten Barcelona-Ziele, die eine Betreuungsquote von 33 Prozent für unter Dreijährige vorsehen. So hat es damals der Europäische Rat, und damit auch Österreich, beschlossen. Hierzulande startete man von weit hinten, ab 2007 ging es dann in größeren Schritten vorwärts. Mit aktuell 29,9 Prozent fehlt nicht mehr viel auf die 33 Prozent.

Im Jahr 2022 verhandelte die Bundesregierung dann gleichzeitig an zwei Fronten: Auf EU-Ebene wurde eine Adaption der Barcelona-Ziele diskutiert, in Österreich an einer neuen 15a-Vereinbarung mit den Bundesländern in der Elementarpädagogik gearbeitet. Letztere wurde im Juni 2022 beschlossen und trat September in Kraft. Der 15a-Vertrag ist bis 2026/27 abgeschlossen, also nach wie vor gültig. Er sieht eine Zielsetzung von 33 Prozent vor.

Allerdings haben sich die Barcelona-Ziele geändert. Kurz sah es damals sogar nach einem neuen Zielwert von 50 Prozent aus, im EU-Rat im Dezember schraubten die Staats- und Regierungschefs die Betreuungsquote aber noch auf 45 Prozent herunter. Unter anderem auf Betreiben Österreichs wurde außerdem ein zusätzlicher, individueller Zielwert für jene Staaten definiert, die noch keine 33 Prozent Betreuungsquote aufweisen konnten. „Nach informellen Berechnungen der EU-Kommission beträgt das Ziel für Österreich 31,9 Prozent“, teilt das Familienministerium der Kleinen Zeitung mit.

Redaktioneller Lapsus in 15a-Vereinbarung

Das heißt, die Republik verfolgt derzeit drei Ziele gleichzeitig bei der Betreuung. Denn grundsätzlich gilt das neue Barcelona-Betreuungsziel von 45 Prozent für alle. Aber, ähnlich dem Maastricht-Defizit, gibt es für säumige Mitgliedstaaten individuelle Ziele, auch wenn sie nur informell quantifiziert werden. Im Fall von Österreich sind es offenbar 31,9 Prozent. Im nach wie vor gültigen Vertrag mit den Bundesländern sind weiter die „alten“ 33 Prozent verankert.

Und, als wäre das alles nicht verwirrend genug, wird in der von 2022 bis 2027 laufenden 15a-Vereinbarung der Zielwert schon für das Jahr 2022 verlangt. Das ergibt wenig Sinn. „Hierbei handelt es sich um einen redaktionellen Fehler“, schreibt dazu das Familienministerium. Eine Neuverhandlung werde es aber nicht gegeben, weder wegen des Fehlers noch wegen der mittlerweile geänderten Barcelona-Ziele. Zumal von EU-Seite, wie das Ministerium bestätigt, für das Verfehlen der Ziele ohnehin keinerlei Sanktionen verbunden sind.