Beinahe hätten es die Grünen geschafft. Fast fünf Jahre sind sie auf Bundesebene bereits in einer Koalition, die Parteichef Werner Kogler zuvor noch kategorisch ausgeschlossen hatte: „Mit dieser türkisen ÖVP sicher nicht“, sagte er im Wahlkampf. Besonders für die einflussreichen Wiener Grünen war diese Zusammenarbeit eine emotionale Belastungsprobe mit potenzieller Sprengkraft, wie innerhalb der Volkspartei auch befürchtet wurde. Doch es kam anders.

Während auf Seite der ÖVP Kanzler, Obmann und Ministerinnen mehrfach wechselten, die Umfragen einbrachen und Wahlergebnisse seither zwischen schlecht und desaströs rangieren, hatten die Grünen wenig Grund zu Klage. Zwar liegen sie in den Umfragen unter dem Resultat von 2019, aber dennoch seit Jahren stabil bei rund zehn Prozent. Partei und Parlamentsklub agierten selbst in heiklen Fragen diszipliniert und im Wesentlichen auch sehr pragmatisch. Bis jetzt.

Auf den neuesten Wahlplakaten der Grünen ist Lena Schilling nicht mehr prominent vertreten.
Auf den neuesten Wahlplakaten der Grünen ist Lena Schilling nicht mehr prominent vertreten. © IMAGO / Isabelle Ouvrard

Wenige Wochen vor der EU-Wahl am 9. Juni bricht nun eine Lawine über die Grünen herein und offenkundig brechen auch alte (und neue) Gräben innerhalb der Partei wieder auf. Am Freitag hat die langjährige Parteichefin, Madeleine Petrovic, angekündigt, im Herbst mit einer eigenen Liste bei der Nationalratswahl antreten zu wollen. Sind die Grünen gar in Gefahr, wie im Jahr 2017 aus dem Parlament zu fliegen? „Das sehe ich nicht“, sagt Meinungsforscher Peter Hajek. „Petrovic ist auch kein Kaliber wie damals Peter Pilz.“

Aussagekräftige Umfragen, wie stark die Causa Lena Schilling der Partei schaden könnte, und ob es den Grünen gelingt, die Affäre und ihre Folgen zumindest halbwegs einzufangen, sind erst für die kommenden Wochen zu erwarten. Zwar sprachen sich laut einer Befragung von Hajek für „Heute“ zwei Drittel für einen Rücktritt Schillings aus – aber nur eine Minderheit bei Grün-Wählern. Auch beim Absturz der grünen Spitzenkandidatin im APA-OGM-Vertrauensindex auf den vorletzten Platz ist aus Sicht des Meinungsforschers entscheidend, wie diese Frage von der kleinen Gruppe der grünen Unterstützer bewertet werde. „Für wen Umwelt und Klima essenziell sind, wird über die Causa Schilling drübergehen. Wem Asyl wichtig ist, drückt auch bei der FPÖ ein paar Augen zu.“

Kogler sind „die Pferde durchgegangen“

Am Freitag waren Schilling sowie die Partei bemüht, ihren bisherigen Kurs ein wenig zu ändern. Beim Versuch, die Flucht nach vorne zu ergreifen, hatte sich Kogler in der Vorwoche bei einer eigentümlichen Pressekonferenz in der Wortwahl verstiegen. Der Vizekanzler war zum verbalen Bulldozer mutiert. „Mir sind die Pferde durchgegangen“, sagte er am Freitag. „Es war unintelligent, ich möchte mich dafür entschuldigen“.

Bei der Präsentation der zweiten Plakatwelle der Grünen, auf denen Schilling nur mehr auf einem Sujet abgebildet ist, wollte sich die 23-Jährige erklären – erstmals. Sie gab zu, aufgeschnappte Gerüchte weitererzählt zu haben, einem Journalisten, der mit einem Belästigungsvorwurf konfrontiert war, wollte sie „nie mutwillig Probleme bereiten“. Sie sei nicht an dessen Arbeitgeber herangetreten oder von diesem kontaktiert worden, sagte Schilling. Sie habe bisher „vielleicht zu sehr gemauert“, wolle nun für mehr Transparenz sorgen.

Bohrn Mena gegen Grüne

Beim zentralen Vorwurf, der die Familie Bohrn Mena betrifft, steht weiterhin Aussage gegen Aussage, was das Motiv betrifft. Es ist vor allem diese Causa, die sich wohl bis in den Nationalratswahlkampf ziehen wird, zumal die Eheleute Bohrn Mena eine Zivilklage gegen Schilling eingebracht haben und im Gegensatz zu anderen Betroffenen in der Öffentlichkeit Stellung beziehen und im September vor Gericht auch Chats vorlegen und Zeugen laden wollen.

Laut Darstellung von Veronika Bohrn Mena im Podcast „Dunkelkammer“ habe sich Schilling nicht an ihr mehrmaliges Versprechen gehalten, den Vorwurf der häuslichen Gewalt nicht mehr zu verbreiten. Die Grünen wiederum haben dokumentiert, dass es Sebastian Bohrn Mena selbst war, der Anfang April einige Abgeordnete der Grünen per SMS über diese Vorwürfe informierte. „Es waren Dinge, die ich nie zuvor gehört habe“, sagte die Abgeordnete und grüne Geschäftsführerin Olga Voglauer.

Dieser Strang der gesamten Causa, in der es im Wesentlichen um Schillings Hang zu Unwahrheiten und ihren mutmaßlich rücksichtslosen Umgang mit Hörensagen geht, hat in den öffentlich debattierten Details eine Tiefe erreicht, die die Grenzen des öffentlichen Interesses längst gesprengt hat. Das heißt aber nicht, dass es nicht trotzdem in aller Öffentlichkeit noch länger breitgetreten wird. Zumal sich auch innerhalb der Partei und des Klubs Risse zeigen, die es bisher in der Form nicht gab. Denn auch Parteiinsider tragen Informationen in die Medien. Vielleicht ist das für die Grünen in Richtung Nationalratswahl die größte Gefahr.