Mit einem innenpolitischen Tabu bricht Neos-Chefin Beate Meinl Reisinger. Im Interview mit der Kleinen Zeitung fordert sie die Anhebung des Pensionsantrittsalters. „Wir hören seit Jahrzehnten, dass das faktische Pensionsantrittsalter angehoben wird, aber es steigt nicht.“ Seit Mitte der 70er-Jahre stagniere dieses. „Seit damals leben Männer im Durchschnitt um sieben Jahre länger und Frauen um acht Jahre. Das geht sich nicht aus. Wir müssen deshalb das gesetzliche Pensionsantrittsalter anheben. Diese Ehrlichkeit muss man haben.“

„Haben längst kapiert, dass sich das nicht ausgeht“

Meinl-Reisinger ist sich dessen bewusst, dass ein solcher Vorstoß in einem Wahljahr nicht ohne Risiko sei. „Ich führe diese Diskussionen gern, weil es eine Stimme braucht, die energisch für die Interessen der Jungen eintritt. Die werden komplett im Stich gelassen.“ Sie wolle nicht, dass die jungen Menschen keine adäquate Pension mehr erhalten. „Ich will, dass man im Alter würdevoll und ordentlich abgesichert ist, aber das Ganze geht nur, wenn die Leute später in Pension gehen.“ Und ganz generell: „Ich bekomme oft den Vorwurf, dass ich unpopuläre Sachen sage. Ich bin überzeugt davon, die Menschen verstehen längst, dass sich das nicht ausgeht. Es ist eine ganz einfache Rechnung.“

„Bundesheer soll Ukrainer am Panzer ausbilden“

Vor dem Hintergrund des russischen Aggressionskriegs geht Meinl-Reisinger auch bei der Unterstützung der Ukrainer einen Schritt weiter als die anderen Parteien. Sie könne sich vorstellen, dass Ukrainer auch auf Panzern in Österreich ausgebildet werde. „Wir können innerhalb der Neutralität viel mehr machen. Ich denke nicht nur an die humanitäre Minenräumung, sondern auch an die Ausbildung am Panzer.“ Ob sie sich vorstellen könne, dass Österreich auch militärisches Gerät, etwa Schützenpanzer, allenfalls Munition an die Front liefere. „Ich bezweifle, dass wir überhaupt in der Lage wären, militärisches Gerät zu liefern.“

„Der Krieg geht uns alle an“

Im Gespräch warnt die Neos-Chefin vor der in Österreich durchaus verbreiteten Ansicht, man könne sich doch letztlich aus dem Konflikt raushalten, weil Österreich nicht unmittelbar davon betroffen sei. „Österreich muss endlich aufwachen. Putin darf sich in der Ukraine nicht durchsetzen. Da geht es auch um unsere ureigensten sicherheitspolitischen Interessen. Der Krieg geht uns was an.“ 

„Die Neutralität schützt uns nicht“

Meinl-Reisinger ortet hierzulande ein „verqueres Neutralitätsverständnis“. Es fange schon mit dem Argument an, dass die Neutralität für Frieden und Friedenspolitik stehe. „Das ist absurd, denn es würde bedeuten, dass Schweden und Finnland für Krieg sind. Die Neutralität schützt uns auch nicht.“ Als Beleg führt die Neos-Chefin die Geschicke von Belgien (im Ersten Weltkrieg) und von Estland (Zweiter Weltkrieg), die neutral waren, aber dennoch überfallen wurden. „Die Neutralität schützt nur, solange das alle respektieren. Wenn ein Aggressor im Raum steht, haben wir den Scherb‘n auf.“

„Erschüttert“ über die Aussagen von Grazer KPÖ-Bürgermeisterin

Über die Aussagen der Grazer KPÖ- Bürgermeisterin Elke Kahr sei sie „erschüttert“ gewesen. „Sie hat gemeint, wenn wir artig sind, passiert uns nichts. Das ist der Aufruf, unter dem Deckmantel der Neutralität vor Diktatoren in die Knie zu gehen und zu kuschen, damit ja nichts passiert. Das geht in Richtung Appeasement.“

Neos-Chefin will Estlands Kallas als Hohe Beauftragte

Meinl-Reisinger tritt dafür ein, dass auf EU-Ebene der verteidigungs- und sicherheitspolitische Aspekt verstärkt werde. Sie könne dem Vorschlag von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, in der Kommission eine eigene Verteidigungskommissarin einzurichten, durchaus etwas abgewinnen. „Die Stoßrichtung finde ich richtig, ich würde die Kommission jedoch nicht noch weiter aufblähen.“ Stattdessen sollte der Hohe Vertreter für Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik mit diesen Agenden betraut werden. Wer das machen könnte? „Mein Vorschlag ist, dass Estlands Ministerpräsidentin Kaja Kallas das übernimmt.“

Österreich hätte den Botschafter einbestellen sollen

Generell sei es „unerträglich“, dass die Regierung immer noch keine Sicherheitsstrategie vorgelegt habe. Russland sei auf absehbare Zeit „kein verlässlicher Partner mehr, sondern eine Bedrohung für die Sicherheit“ in Europa. „Ich habe nicht verstanden, warum wir nicht den Botschafter einbestellt haben oder mehr Diplomaten ausweisen.

„Umverteilung vom Hackler zum Häuslbauer“

Auch zum aktuellen Häuslbauer-Bonus meldet sich die Neos-Chefin zu Wort „Da schlägt Nehammer in seiner Rede vor, dass es endlich ein Ende des „Koste es, was es wolle“ gibt, und dann fällt den Herren Mahrer und Muchitsch nichts anderes ein, als jedem Häuslbauer 100.000 Euro zu geben. Das ist eine Umverteilung vom Hackler zum Häuslbauer.“ Ein Aspekt falle dabei komplett unter den Tisch: der Kampf gegen die Bodenversiegelung. „Wir brauchen dringend eine Bodenschutz-Strategie, wo der Bund Rahmenbedingungen festlegt und die Widmungskompetenz der Gemeinden eingeschränkt wird.“ Es brauche eine höhere, unpolitische, fachliche Ebene, die in den Einzelfällen mitentscheide. „Man kann nicht ein Gewerbegebiet nach dem anderen am Stadt- oder Gemeinderand aufsperren und dann bejammern, dass die Orts- und Stadtkerne aussterben.“

„Nur zu sagen man will Kickl verhindern, ist zu wenig“

Dass im Vorfeld der Wahl die innenpolitische Debatte oft darauf reduziert wird, wie Kickl zu verhindern sei, sei falsch. „Wir müssen alles dransetzen, dass es eine Alternative zu dem Fatalismus gibt. Die FPÖ ist nicht regierungsfähig, es ist aber keine gute Idee, wenn man nur sagt, man will Kickl verhindern. Man braucht eine positive Vision, Perspektive, Erzählung. Wir Neos haben die.“

„Die Grünen haben keine Energie mehr, sind müde“

Sollte nach der Wahl eine Dreierkoalition das Licht der Welt erblicken, sollten die Neos, nicht die Grünen zum Zug kommen, so die Neos-Chefin wenig überraschend:  „Ich sehe bei den Grünen keine Energie mehr, sie sind müde. Die übrig gebliebene Energie wird dafür verwendet, dass man sich in dieser Koalition aufreibt.  Es braucht jemanden, der die Regierung Woche für Woche treibt, der Reformen umsetzt. Die Frage ist: Wem traut man das zu? Wir Neos habe diese Kraft.“