Die Ereignisse von 1933 und 1934 lagen über Jahrzehnte – große Koalitionen hin oder her – als dunkler Schatten über den Beziehungen zwischen Sozialdemokraten und Volkspartei. In der Wissenschaft herrscht heute längst Konsens über die Fakten und deren Einordnung, lediglich im politischen Orbit wird noch über Begriffe – Regierungsdiktatur versus Ständestaat oder doch Austrofaschismus – diskutiert. Doch die Erinnerung an die 1600 Toten und neun Hinrichtungen gegen Schützbündler, vor allem aber die Rolle von Engelbert Dollfuß, der erst das Parlament ausschaltete, dann Sozialdemokraten und Nationalsozialisten verfolgte und schließlich von den Nazis ermordet wurde, bricht immer wieder in die Tagespolitik ein.

„Es gibt noch Spuren, aber sie sind nicht mehr sehr ausgeprägt“, sagt dazu der Politologe Anton Pelinka, ein ausgewiesener Kenner der österreichischen Zeitgeschichte. Er sieht es als das historische Verdienst der Gründerväter der Zweiten Republik, nach 1945 eine Brücke zwischen den verfeindeten Lagern der Ersten Republik geschlagen zu haben. Und das, obwohl etwa Leopold Figl, der erste Kanzler nach dem Zweiten Weltkrieg, vor dem Krieg auch Anführer einer paramilitärischen Organisation gewesen ist –„am Beginn jeder Kompromissdemokratie steht ein Bürgerkrieg“. Diese Versöhnungsleistung, so Pelinka, „kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden“.

Droht eine Wiederkehr der 1920er? Ja und nein

Damals hätten – unter den wohlwollenden Augen der Alliierten, aber angesichts der vielen Toten und außerrechtlich vollstreckten Todesurteile nicht selbstverständlich – Gewinner wie Verlierer des Bürgerkriegs ein innenpolitisches Friedensabkommen geschlossen. Der rot-schwarze Proporz und die große Koalition waren über Jahrzehnte die Mittel zu diesem Zweck, erläutert Pelinka. Die ÖVP hat dem politischen Katholizismus ebenso abgeschworen wie die katholische Kirche dem parteilichen Politisieren. Im „Mariazeller Manifest“ von 1952 sieht Pelinka das Bekenntnis einer freien Kirche zu einem säkularen Staat. Auf der Gegenseite hat die SPÖ ihre Prioritäten während der Zwischenkriegszeit, wonach nicht Demokratie, sondern Sozialismus das Ziel sei, nach 1945 umgedreht.

Seitdem ist viel Wasser die Donau hinabgeflossen: Die Zeitzeugen sind längst tot und die Nachfolgegeneration im Ruhestand. Dennoch tauchen Erinnerungen an 1934 regelmäßig in den Schlagzeilen auf: sei es die Debatte um das Dollfuß-Porträt im ÖVP-Klub, das mittlerweile an ein Museum übergeben wurde, oder um ein dem Diktator gewidmetes Museum in dessen Heimatgemeinde Texingtal, wo ausgerechnet Innenminister Gerhard Karner (ÖVP) Bürgermeister war, und das nun aufgelöst wird.

Für Pelinka sind diese Debatten weniger Ausdruck echter Empörung als vielmehr „Mittel zum Zweck, um das von den Bürgerlichen an den Sozialdemokraten begangene Unrecht zu unterstreichen und die Vaterländische Front, die Einheitspartei der Dollfuß-/Schuschnigg-Diktatur, mit der NSDAP in einen Topf zu werfen“. Dazu passt, dass es anlässlich des 90. Jahrestags der Februarkämpfe einmal mehr kein gemeinsames Gedenken gibt. Im Parlament war das weder ÖVP noch SPÖ ein Anliegen.

Aber droht heute wirklich eine Wiederholung der 1920er-Jahre, wie viele fürchten? „Ja und nein“, antwortet Pelinka. Ja, weil Demokratie stets gefährdet sei, wie man in Ungarn sehe; und nein, weil die Zeiten heute ganz andere seien. Er sieht insbesondere die Versuchung, wieder in Freund-/Feindbilder zu verfallen: „Diese Gefahr ist immer da, daran ist zu erinnern.“

Gänzlich andere internationale Rahmenbedingungen

Der wichtigste Unterschied zur Vorkriegszeit sind für Pelinka die internationalen Rahmenbedingungen. Damals war Österreich zwischen zwei faschistischen Regimen eingeklemmt, heute sind wir Mitglied der EU, die über einen Grundwertekatalog verfügt, der die Basis jeder liberalen Demokratie bildet: „Davon kann man sich nicht einfach verabschieden.“

Pelinka vermisst die Präzisierung der im Schlagabtausch eingesetzten Begriffe: „Warum spricht FPÖ-Obmann Herbert Kickl von ‚Volkskanzler‘, aber nicht von ‚Volkspräsident‘, obwohl letzterer als einziger Bundespolitiker direkt gewählt ist? Weil er Alexander Van der Bellen nicht aufwerten will.“ Dabei hat der Kanzler kein Weisungsrecht in der Regierung und er kann sich auch die Minister eines Koalitionspartners nicht aussuchen, während niemand Kanzler oder Minister werden kann ohne die Unterschrift des Staatsoberhaupts. Dem Bundespräsidenten, ist Pelinka überzeugt, komme in den kommenden Monaten eine entscheidende Rolle zu.