In Großbritannien könnte bei den Europawahlen Nigel Farages Brexit-Partei jede dritte Stimme erhalten. Das sagen die Umfragen voraus.

Geradezu katastrophale Einbrüche dürften dagegen, mit lediglich noch zehn Prozent, Theresa Mays Tories verzeichnen. Auch Jeremy Corbyns Labour Party darf sich nicht viel mehr als 20 Prozent erhoffen – weil viele traditionelle Wähler Zuflucht zu unzweideutig proeuropäischen Parteien nehmen. Kaum mehr nach Loyalitäten, dafür schlicht für oder gegen den Brexit wird heute auf der Insel abgestimmt.

Abgang (doch keine) Frage der Zeit

Als die Briten vor drei Jahren für den Brexit stimmten, sagt Farage, „da habe ich wirklich und wahrhaftig geglaubt, das war es, das ist gelaufen“. Schließlich habe sich sein Land für den Austritt aus der EU entschieden. Der Abgang war danach nur eine Frage der Zeit. Aber hat Premierministerin May ihr Versprechen gehalten und das Vereinigte Königreich aus der EU geführt? Keine Spur.



"Der eine wirklich große politische Fehler" seines Lebens sei es gewesen, May je Glauben geschenkt zu haben, bekundet Farage. Er hätte sich schlicht "nicht vorstellen können, dass eine Pfarrerstochter das Volk mit so vorsätzlicher Doppelzüngigkeit verraten" würde, wie May das getan habe. Wutgeheul erfüllt die Halle im Lakeside Country Club von Frimley Green, eine Stunde südwestlich von London, wo unter altertümlichen Leuchtern früher einmal bierselige Darts-Weltmeisterschaften abgehalten wurden.

Nun drängen sich hier erboste Farmer, Kleinhändler und Soldaten aus den vielen umliegenden Kasernen, die es wie Farage "nicht länger hinnehmen" wollen, dass "die politische Elite" in der Hauptstadt sie um ihren Brexit "betrügt". Weit über tausend Menschen, kaum einer unter fünfzig, haben sich an diesem Abend versammelt kurz vor der Europawahl, die es hierzulande nicht mehr hätte geben sollen. Nun gibt es sie doch. Weil Westminster sich auf nichts einigen kann – und nach Überzeugung der Versammelten auch auf nichts einigen will.

Denn der Beschluss von 2016 gilt, wie Farage erklärt, 2019 "nichts mehr". Mays Parole "Brexit bedeutet Brexit" war nie so gemeint. "Wie eine im Krieg vernichtete Nation" stehe Großbritannien da, völlig gedemütigt. Und das könne und dürfe nun wirklich nicht sein. Kein Wunder, dass er, Farage, vor sechs Monaten beschlossen habe: "Wir müssen was tun. Wir müssen uns wehren." Abseits stehen wäre, in einer solchen Krise, falsch: "Genau darum habe ich die Brexit-Partei gegründet. Jetzt ist denen schon ganz schön bang vor uns."

Das stimmt. Farage, der bis 2016 noch an der Spitze der Unabhängigkeitspartei Ukip stand, hat gut lachen. Das Partei-Kaninchen, das der spöttische Magier der britischen Politik quasi über Nacht aus dem Hut zog, hat sich in wenigen Wochen prächtig entwickelt.
Wie ein Rockstar wird seine Ankunft gefeiert. Obwohl sich Farage, im simplen Straßenanzug, bewusst als Mr. Normalbürger präsentiert, der nur dem Ruf der Geschichte folgt, also seine Pflicht erfüllt.

Revolution gegen "politische Klasse"

Eine "demokratische Revolution" gegen "die politische Klasse" hat er sich aufs Banner geschrieben. Denn längst geht es nicht mehr nur um den Brexit. Es geht darum, dass "der Volkswille" von allen Parteien "verachtet" wird. Nicht mehr nur die Brüsseler Bürokraten hat er im Visier, wie früher bei Ukip. Mit seinen angeworbenen Truppen will er Neues. Eine "umfassende politische Reform im Lande" soll "dem britischen Zweiparteien-System den Garaus bereiten."

Mit der Brexit-Partei, die aus "zahlenden Anhängern" statt aus Mitgliedern besteht und die er "wie ein Unternehmen" leitet, verfügt Farage über ein Instrument, das er kontrolliert. Seine Kandidaten sucht er persönlich aus. Die Linie gibt nur er vor. 100.000 Brexiteers hören auf sein Kommando. Bald hofft er, über mehr Gefolgsleute zu verfügen als die Tories über eingeschriebene Mitglieder.