Wenn’s schlecht läuft, fürchten in den Parteizentralen viele am Wahlabend den einen Moment: wenn die erste Hochrechnung oder die ersten Exit-Polls verkündet werden und am Bildschirm die Balken nach oben steigen oder nach unten fallen. Beim Absturz hat die ÖVP schon eine gewisse Übung: minus 9,55 in Tirol, minus 9,70 in Niederösterreich, minus 7,41 in Salzburg. Am Sonntag könnte es für die Volkspartei dicker kommen. In der Hochphase von Sebastian Kurz fuhren die Türkisen 2019 34,5 Prozent bei der Europawahl ein. Glaubt man den Umfragen, könnte das Minus sogar zweistellig ausfallen. Womöglich fällt man auf Platz drei hinter die FPÖ und die SPÖ zurück.

Die Schuld dem Spitzenkandidaten umzuhängen, wäre wohl zu billig. Da die EU-Wahlen ein Testlauf, ein Stimmungsbarometer für die Nationalratswahlen sind, wird unweigerlich in dem einen oder anderen ÖVP-internen Gespräch am Wahlabend die Frage auftauchen: Ist Karl Nehammer der richtige Spitzenkandidat für die Herbstwahl? „Bei einem schlechten Abschneiden wird es eine Obmanndebatte geben, die nach 20 Sekunden beendet ist“, witzelt ein Insider. Und zwar in Ermangelung einer personellen Alternative, der man zutraut, 112 Tage vor der Herbstwahl das Ruder komplett herumzureißen. Die Minister Karoline Edtstadler und Magnus Brunner gelten als Personalreserve. Die Option Sebastian Kurz ist – derzeit – keine ernsthafte, vor allem wegen der offenen Verfahren. Im Herbst peilt die ÖVP Platz zwei an – in der Hoffnung, dass man irgendwie im Kanzleramt verbleiben kann. Ob die Rechnung aufgeht und die Strategie „Augen zu und durch“ von Erfolg gekrönt ist, bleibt abzuwarten.

Mit einem mulmigen Gefühl blicken auch die Grünen, der kleine Koalitionspartner, dem Wahlsonntag entgegen. Die Auswirkungen der Causa Schilling auf das Wahlverhalten der grün-affinen Österreicherinnen und Österreicher sind schwer abzuschätzen. Werden die Grünen, die 2019 rekordverdächtige 14,08 Prozent einfuhren, einstellig, fällt das auf Parteichef Werner Kogler zurück, der nicht nur einer der Erfinder der 23-jährigen Jungpolitikerin ist, sondern mit seinen Kraftausdrücken die Krise um die grüne Spitzenkandidatur eher befeuert hat.

Erstmals bundesweit auf Platz eins?

Die FPÖ kann den Wahlsonntag wahrscheinlich kaum erwarten, denn zum ersten Mal seit 1945 dürften die Blauen bei einem bundesweiten Urnengang auf Platz eins landen – wenn man den ersten Durchgang der Hofburg-Wahl 2016 abzieht. Die Freiheitlichen betrachten die EU-Wahlen als Probegalopp für den Herbst. Mit Platz eins am Sonntag hätten die Blauen Anspruch auf den Nationalratspräsidenten.

Auch die Neos dürften dem Sonntag entgegenfiebern, denn die Umfragen deuten auf ein deutliches Plus hin – wohl nicht nur wegen der Causa Schilling, sondern weil die Neos als Pro-Europapartei ohne Wenn und Aber ein Alleinstellungsmerkmal besitzen. Die SPÖ fuhr 2019 das zweitschlechteste EU-Ergebnis ein. In der Löwelstraße hofft man, dass man zulegt und in jedem Fall vor der ÖVP zu liegen kommt.