Die EU-Entscheidung über einen Kandidatenstatus für die Ukraine und Moldau hat sich am Donnerstag auf dem EU-Gipfel in Brüssel verzögert. Grund dafür sind laut Diplomaten aber nicht Zweifel daran, dass das von Russland angegriffene osteuropäische Land den Status erhalten sollte. Vielmehr sei in der Debatte der 27 EU-Staats- und Regierungschefs die Frage aufgestellt worden, ob dann nicht auch etwa das Westbalkan-Land Bosnien-Herzegowina einen Kandidatenstatus erhalten sollte.
Der Grund ist eine etwas andere Systematik, die für beide Länder gelten würde. Die EU-Kommission hat etwa für Bosnien-Herzegowina Anforderungen formuliert, deren Erfüllung dann zum Kandidatenstatus führen würde. Im Falle der Ukraine könnte der Status aber vor der Erfüllung der Auflagen erteilt werden. Etliche EU-Regierungen, darunter jene aus Österreich und Deutschland hatten mehrfach davor gewarnt, dass die Solidarität mit der Ukraine nicht dazu führen dürfe, die sechs Westbalkan-Staaten Serbien, Montenegro, Albanien, Nordmazedonien, Kosovo und eben Bosnien-Herzegowina vor den Kopf zu stoßen.
- Was bedeutet der Kandidatenstatus?
Relevant ist der Status vor allem psychologisch und symbolisch. Die EU will den mehr als 40 Millionen Ukrainern zeigen, dass sie eine Perspektive haben, EU-Bürger zu werden. Er soll zudem ein Zeichen dafür sein, dass es sich lohnt, für Freiheit und Demokratie zu kämpfen. "Die Ukraine steht an der Frontlinie und verteidigt europäische Werte", sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen kürzlich. - Ist der Kandidatenstatus mit Finanzhilfen verbunden?
Einen Automatismus zwischen Kandidatenstatus und Finanzhilfe gibt es nicht. Für die EU-Beitrittskandidaten sind von 2021 bis 2027 allerdings insgesamt 14,16 Milliarden Euro als sogenannte Heranführungshilfen eingeplant. Das Geld soll Reformen unterstützen, die Auszahlung müsste jedoch von den Mitgliedstaaten bewilligt werden. Unterm Strich dürften diese Hilfen aber ohnehin nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein. Der Wiederaufbau der hoch verschuldeten Ukraine wird schätzungsweise weit mehr als eine Billion Euro kosten. - Wie lange dauert der Weg vom Kandidatenstatus bis zum EU-Beitritt?
Das kann niemand vorhersagen. Die Türkei etwa wurde 1999 EU-Kandidat - und war wohl noch nie weiter von einer Mitgliedschaft entfernt als heute. Relevant ist auch, dass jeder Schritt der Annäherung einstimmig von den EU-Staaten beschlossen werden muss. Theoretisch kann ein Beitrittskandidat auch nie Mitglied werden. - Wie geht es jetzt für die Ukraine weiter, wenn sie EU-Kandidat ist?
Es wurde erwartet, dass sich die Staats- und Regierungschefs bei ihrem Brüsseler Gipfel hinter eine Empfehlung der EU-Kommission stellen. Demnach müsste das Land vor dem Beginn von Beitrittsverhandlungen zunächst sieben Voraussetzungen erfüllen. Es geht unter anderem um das Auswahlverfahren ukrainischer Verfassungsrichter und eine stärkere Korruptionsbekämpfung - insbesondere auf hoher Ebene. Auch fordert die EU-Kommission, dass Standards im Kampf gegen Geldwäsche eingehalten werden und ein Gesetz gegen den übermäßigen Einfluss von Oligarchen umgesetzt wird. - Kann die Ukraine diese Voraussetzungen in absehbarer Zeit erfüllen?
Das ist äußerst unwahrscheinlich. Der Europäische Rechnungshof stellte dem Land noch im September ein verheerendes Zeugnis aus. "Obwohl die Ukraine Unterstützung unterschiedlichster Art vonseiten der EU erhält, untergraben Oligarchen und Interessengruppen nach wie vor die Rechtsstaatlichkeit in der Ukraine und gefährden die Entwicklung des Landes", hieß es damals.
Zwar hätten EU-Projekte und EU-Hilfen dazu beigetragen, die ukrainische Verfassung sowie eine Vielzahl von Gesetzen zu überarbeiten. Die Errungenschaften seien allerdings ständig gefährdet, und es gebe zahlreiche Versuche, Gesetze zu umgehen und die Reformen zu verwässern. Das gesamte System der strafrechtlichen Ermittlung und Strafverfolgung sowie der Anklageerhebung bei Korruptionsfällen auf höchster Ebene sei alles andere als gefestigt. - Ist die EU überhaupt in der Lage, weitere Länder aufzunehmen?
Die Europäische Union gilt vielen schon jetzt - mit 27 Mitgliedern - als behäbig. Weil in Bereichen wie der Außenpolitik Entscheidungen einstimmig getroffen werden müssen, kommt es immer wieder zu Blockaden. Kanzler Olaf Scholz mahnt deshalb, die EU müsse sich "erweiterungsfähig" machen. Dazu gehöre auch, für einige Entscheidungen das Prinzip der Einstimmigkeit aufzuheben. Jedoch ist sehr unwahrscheinlich, dass alle Staaten bereit sind, ihr Veto-Recht aufzugeben. - Welche Rolle spielt Russlands Krieg auf dem EU-Weg der Ukraine?
Vermutlich eine zweischneidige. Auf der einen Seite müsste die Ukraine ohne den Krieg wohl noch lange auf den Kandidatenstatus warten. Auf der anderen Seite dürfte der Krieg die Bemühungen erschweren, die Auflagen für den Beginn der Beitrittsverhandlungen zu erfüllen. Zudem gilt es als ausgeschlossen, dass die Ukraine vor Kriegsende EU-Mitglied wird. Denn dann könnte Kiew nach Artikel 42, Absatz 7 des EU-Vertrags militärischen Beistand von anderen EU-Staaten einfordern - die EU wäre offiziell Kriegspartei. - Welche Länder streben noch in die Europäische Union?
Bereits seit längerem Beitrittskandidaten sind neben der Türkei die Länder Albanien, Nordmazedonien, Montenegro und Serbien. Hinzu kommen Bosnien-Herzegowina und das Kosovo als sogenannte potenzielle Kandidaten. Kurz nach der Ukraine hatten sich im März auch Georgien und Moldau beworben. Moldau sollte beim EU-Gipfel wie die Ukraine zum EU-Kandidaten gemacht werden. Georgien sollte zunächst Reformen erfüllen, ehe es so weit ist. Die Hoffnungen der Balkan-Staaten auf Fortschritt auf ihrem Weg in die EU wurden bei einem gemeinsamen Treffen mit der Staatengemeinschaft am Donnerstag enttäuscht.