Der Protest-Samstag in Moskau hatte sehr verschiedene Gesichter. In der Stoleschnikow-Gasse drängten sich vergnügte Demonstranten um eine Eisverkäuferin, ein paar Straßen weiter half ein Einsatzpolizist einem Mädchen über einen Zaun. Aber seine Kollegen droschen vielerorts wütend mit Gummiknüppeln auf Schultern und Köpfe ein, zwangen eine junge Frau mit blutüberströmten Hals in einen Polizeibus, andere Festgenommene wurden friedlich abgeführt oder brutal über den Asphalt gezerrt. „Die Behörden haben mit beispielloser Härte auf die nicht genehmigte Protestaktion reagiert“, resümiert das Wirtschaftsportal forbes.ru. Nach Angaben der Rechtsschutzgruppe OWD-Info wurde die Rekordzahl von 1373 Menschen festgenommen, 25 dabei verprügelt. Die Polizei meldet nur 1074 Festgenommene – und zwei durch Pfefferspray verletzte Beamte.

Es war ein blutiger und wirrer Protest-Samstag, noch in der Abenddämmerung waren die Ordnungskräfte damit beschäftigt, Menschenmengen zu zerstreuen. Die protestierten, weil die hauptstädtische Wahlkommission mehrere Oppositionskandidaten wegen angeblicher Fehler in Unterschriftenlisten nicht zu den Bürgermeisterwahlen zulassen will. Laut der Pressestelle der Moskauer Polizei waren es insgesamt 3500 Menschen, darunter 700 Presse-Vertreter. Allerdings tauchte auf Facebook das Polizei-Protokoll einer Festnahme auf, in der von 10.000 Demonstranten die Rede ist.

Ihre genaue Zahl weiß niemand. Das lag vor allem an der Taktik der Sicherheitskräfte. Wie bei anderen nicht genehmigten Kundgebungen im Juni versuchten sie erfolgreich, die Menge der Demonstranten, die sich vor dem Moskauer Rathaus versammeln wollten, durch Absperrungen und Menschenmauern aus Einsatzpolizisten zu spalten und in Nebenstraßen abzudrängen. Außerdem waren fast alle Organisatoren der Demonstration schon vorher verhaftet worden. Aber die führerlosen Protestgruppen suchten sich selbst spontan neue Marschrouten, um die Polizeikolonnen abzuhängen. Was zum Teil auch gelang, gegen 18 Uhr konnte eine Menschenmenge für kurze Zeit sogar den Gartenring, die wichtigste Autostraße im Moskauer Zentrum, blockieren.

Alle Drohungen fruchteten diesmal nicht

„Die Leute sind nicht auseinander gegangen“, sagt der Oppositionspolitiker Sergei Dawidis. „Das zeugt von ihrer Entschlossenheit. Sie sind bereit, Festnahmen und Schläge zu riskieren.“ Auch die Drohung der Behörden vor der Kundgebung, man werde männliche Teilnehmer zum Wehrdienst einziehen, hätte nicht gefruchtet. Und der PolitologeGleb Kusnezow glaubt, die Demonstranten nutzten mit Freuden die Freiheiten, die ihnen eine Kundgebung ohne Genehmigung und festgelegten Ort biete, vergleicht den Samstag in Moskau schon mit den Aktionen der „Gelben Westen“ in Paris. „Manche sind gekommen, um Spaß zu haben, manche um Adrenalin zu tanken“, schreibt die Zeitung Moskowski Komsomoljez. Auf jeden Fall hatten diese Leute keine Angst vor der eskalierenden Polizeigewalt.

Und die Staatsmacht in Moskau muss sich wieder auf eine neue Straßenopposition einstellen: spielerisch, flexibel, antiautoritär und dabei friedlich. Nach Angaben der Agentur RBK scheiterten am Samstag mehrere Provokateure, die versuchten, die Menge zu Angriffen auf die Polizei zu bewegen.

Allerdings fehlt ihr schlicht die Masse. Auch 10.000 Aktivisten, kein Promille der Moskauer Einwohnerschaft, sind viel zu wenig, um Wladimir Putins Regiment ernsthaft gefährden zu können.
Trotzdem stehen der Polizei im Moskauer Stadtzentrum neue nervige Räuber- und Gendarm-Spiele bevor. Die nächste Demo gegen den Ausschluss der Moskauer Kandidaten ist für Samstag geplant.  --