In den vergangenen Tagen war oft die Rede von Menschenrechten. Wie soll man mit straffällig gewordenen Flüchtlingen umgehen, in deren Heimat Krieg herrscht?
Andreas Schieder: Zuerst muss man feststellen, dass es ein himmelschreiender Skandal ist, dass der Innenminister findet, die Menschenrechtskonvention gehört weg. Und dass der Bundeskanzler zu dem fast gar keine Worte findet. Daran sieht man, das Scheinduell Karas gegen Vilimsky ist nur ein Propagandaschmäh – hätten ÖVP und FPÖ unterschiedliche Ansichten, wären in dieser Frage längst Konsequenzen gezogen. Zur Sache: Es gibt klare Regelungen, wann und bei welchem Strafausmaß Straftäter abzuschieben sind.

Diese Regeln reichen aus?
Die EMRK gibt einen klaren Rahmen vor; ich sehe in ganz Europa niemanden, der das ändern will – außer Herrn Vilimsky, Frau Le Pen, Herrn Kickl, Herrn Orbán.

SPÖ-Geschäftsführer Thomas Drozda meinte vor Kurzem anlässlich eines Mordes durch einen Syrer, bei zweimaliger Verurteilung wegen Körperverletzung und einer weiteren Anzeige wegen Körperverletzung und sexueller Belästigung „gehört abgeschoben. Punkt.“
Wenn das im Rahmen der EMRK möglich ist. Auch wenn jemand mehrfach straffällig wird, geht es um die Bewertung des Strafausmaßes. Bei der Frage, ob sie abgeschoben werden können, gibt es rechtsstaatliche Regeln zu beachten.

Das Zitat lautete: „Gehört abgeschoben. PUNKT.“ Viel Spielraum für Rechtsstaat ist da nicht.
Das Ziel dieser Regierung ist doch, möglichst viele Menschen abzuschieben. Die Realität schaut anders aus, viele, die gar kein Asyl in Österreich bekommen, bleiben trotzdem hier, weil die Regierung keine Rückführungsabkommen zusammenbringt.

Was wäre denn Ihr Ansatz, wie bekommt man mehr Rückführungsabkommen zustande?
Wenn wir die Migrationsfrage nicht nur als Propagandainstrument des Herrn Kurz verstehen, sondern echte Lösungen wollen, kann man nur sagen: Es gibt nur europäische Lösungen. Und die fangen vor Ort an. Wo Krisen entstehen, muss die EU handlungsfähig sein; diplomatisch handlungsfähig, um die Krisen zu lösen, und humanitär handlungsfähig. Für die, die dann noch immer nach Europa kommen, brauchen wir ein einheitliches Asylsystem und eine faire Aufteilung auf die Staaten.

Zur Handlungsfähigkeit: Was soll denn die EU machen, wenn wie in Syrien ein Bürgerkrieg ausbricht, in den Weltmächte involviert sind?
Europas globaler Beitrag kann nicht sein, mit militärischer Macht Superpower zu spielen, wir müssen unsere Stärken ausspielen. Es wäre dringend notwendig, dass Europa sich mehr einschaltet. Viele der globalen Sicherheitsarchitekturen sind brüchig geworden. Die Nato ist kaputt, von Herrn Trump zerstört. In Wahrheit müssen sich die europäischen Nato-Mitglieder überlegen, ob es nicht sinnvoller wäre, Know-how und Ressourcen in dieses humanitäre, außenpolitisch aktive Europa als dieses Militärbündnis zu investieren.

Machen wir das konkret: In Syrien besteht das Risiko, dass die Türkei einmarschiert und die Kurdengebiete besetzt. Was soll diese außenpolitisch aktive Union, wie Sie sie schildern, jetzt tun?
Da muss man einen Schritt vorher anfangen: Das Problem ist deshalb so heiß geworden, weil der amerikanische Präsident abzieht aus Syrien und seine bisherigen Verbündeten, die einzigen Vernünftigen in dem ganzen Konflikt, die kurdischen Kämpferinnen und Kämpfer, an das Erdoan-Regime ausliefert.

So weit klar. Was soll die EU ...
Das muss man sagen, weil zum Beispiel wir mit der FPÖ eine Partei in der Regierung sitzen haben, die den Herrn Trump gut findet und alles macht, was der Herr Putin will. Solche Parteien haben eine Mitverantwortung daran, was dort passiert.

Der Herr Trump wird wohl nicht die FPÖ gefragt haben, ob er aus Syrien abziehen soll.
Nein, aber die FPÖ könnte sich ja eigenständig eine Meinung bilden und nicht alles leiwand finden, was Trump an Schwachsinn macht.

Aber was soll die EU nun tun?
Europa müsste Tacheles mit dem türkischen Staatschef reden. Unmissverständlich klarstellen, dass Menschenrechtsstandards eine Voraussetzung sind, um die an sich freundschaftlichen Beziehungen zur Türkei – aber ohne Beitrittsperspektive – aufrechtzuerhalten. Wir haben die wirtschaftliche Macht zu sagen, dass wir diesen Weg nicht gutheißen, wir haben die zivilisatorische Macht, zu sagen, was wir nicht zulassen, ist, dass ihr ganze Völker an eurem Grenzstreifen gefährdet.

Angenommen, die EU sagt Erdoan genau das – und er marschiert trotzdem in Syrien ein.
Ich weiß, worauf Sie hinauswollen: Sanktionen und braucht die EU einen militärischen Arm? Das würde ich sehr zurückhaltend sehen, weil ich glaube, dass die diplomatischen, wirtschaftlichen und politischen Möglichkeiten zusammen wesentlich stärker sind als die militärischen. Aber ja, da muss man auch über weitgehende Sanktionen reden.

Kommen wir zu dem zweiten Aspekt, den Sie angeschnitten haben: Flüchtlinge fair in Europa zu verteilen. Das scheitert seit Jahrzehnten, weil etliche Staaten keine solche Lösung wollen.
Ja, und es gibt auch Politiker, die das bewusst schüren. Einige davon waren zum Beispiel in Großbritannien aktiv und jetzt steht das Land vor dem Chaos. Ein isolationistischer Kurs wie von Herrn Vilimsky klingt am Anfang manchmal schön und es endet dann immer im Chaos.

Apropos Brexit und direkte Demokratie: Es ist jetzt etwas mehr als zehn Jahre her, dass Alfred Gusenbauer und Werner Faymann den Österreichern per Leserbrief versprochen haben, eine signifikante Änderung der EU-Verträge nur nach einer Volksabstimmung zuzulassen. Ist dieses Versprechen aus SPÖ-Sicht noch aufrecht?
Im Grunde muss man dazu beurteilen, was eine signifikante Änderung ist. Und ganz ehrlich: Ich sehe auch nicht am entferntesten Horizont der EU-Politik eine Vertragsänderung. Ich glaube, dass sie eine brauchen würde – aber ich seh sie nicht, und daher stellt sich die Frage nach einer Volksabstimmung, für die ich mich dann aussprechen würde, derzeit leider nicht.