Das erwartete Vertragsverletzungsverfahren der EU-Kommission gegen Österreich wegen der Indexierung der Familienbeihilfe dürfte wohl bis vor den Europäischen Gerichtshof (EuGH) kommen. Das erwartet der Wiener Sozialrechtler Wolfgang Mazal. Die Kommission und mehrere osteuropäische Staaten haben die am 1. Jänner 2019 eingeführte Maßnahme bereits "diskriminierend" genannt.
In einem Vertragsverletzungsverfahren kann die Kommission den Fall vor das EU-Gericht bringen, wenn sie keine Einigung mit dem betroffenen Mitgliedsstaat erzielen kann. Der erste Schritt in einem solchen Verfahren wird für den 24. Jänner erwartet.
Österreich argumentiert gegen die Diskriminierungsvorwürfe damit, dass die hiesige Familienbeihilfe nicht aus dem Gehalt der Arbeitnehmer finanziert wird wie in vielen anderen europäischen Staaten, sondern aus einem Dienstgeberbeitrag, der funktional den Charakter einer Steuer hat. Diese Argumentationslinie basiert auf einem Gutachten Mazals, der Vorstand des Instituts für Arbeits- und Sozialrecht der Universität Wien ist. Dieses diente als argumentative Grundlage für die Indexierung der Familienbeihilfe für jene Kinder, die nicht in Österreich leben.
"Eine singuläre Situation"
Der Jurist unterstrich im Gespräch mit der APA erneut den Unterschied, der in der Finanzierung dieser Zuwendung in Österreich zu anderen EU-Staaten besteht. "Wir haben hier eine singuläre Situation." Hierzulande sei die Familienbeihilfe nicht als Versicherungsleistung ausgestaltet, die aus dem Bruttoentgelt finanziert wird, sondern wird aus Abgaben der Arbeitgeber und der Gebietskörperschaften finanziert.
Die Familienbeihilfe ist als teilweise Unterstützung zur Tragung der Unterhaltslast konzipiert, weshalb es auch gerecht sei, dass sich die Höhe der Beihilfe an der Höhe der Unterhaltskosten für die Kinder orientiere. Soweit diese wesentlich von den Lebenshaltungskosten am Aufenthaltsort des Kindes abhängen, sei es legitim, auch die Unterstützung von der Kaufkraft am Aufenthaltsort des Kindes abhängig zu machen. Dies gelte übrigens auch für österreichische Staatsbürger, deren Kinder im Ausland lebten, erinnerte Mazal. Die EU-Kommission argumentiere, "Sozialleistungen können nicht indexiert werden, weil beitragsfinanziert. Wieso sagt nicht endlich jemand: Das ist eben nicht beitragsfinanziert?!", fragte er.
Es gebe bisher keine Judikatur des EuGHs zu derartigen Fällen, sagte der Universitätsprofessor. Deshalb sei das Urteil des Gerichtshofs auch nicht vorauszusehen. Vertragsverletzungsverfahren kommen übrigens oft vor: Der Sozialrechtler verwies auf Klagen gegen Österreich aus der Vergangenheit - als Beispiel nannte er die Medizinerquote -, wo "kaum jemand gedacht hätte", dass Österreich recht behalten würde, dies aber trotzdem geschah.
Bezüglich einer angekündigten Klage Rumäniens vor dem EuGH gegen die Indexierung sagte Mazal: "Es gibt verschiedene Wege, wie der EuGH befasst werden kann." Gegen die Maßnahme könnten auch Einzelpersonen klagen oder Gerichte den Fall an das EU-Gericht weiterleiten. Staaten könnten eine Klage parallel zum Vertragsverletzungsverfahren anstreben, um einer eventuellen Einigung zwischen Österreich und der EU-Kommission - "was ich aber für unwahrscheinlich halte" - zuvorzukommen. Würde der Staat nämlich erst nach einer solchen Einigung klagen wollen, "da wäre eine hohe politische Hürde zu überwinden". Auf jeden Fall erwartet Mazal "mit Sicherheit", dass noch mehrfach diesbezüglich Klagen vor dem EuGH eingebracht werden.
Auf die Frage, ob durch die Indexierung nun mehr EU-ausländische Arbeitnehmer ihre Kinder nach Österreich holen würden, sagte Mazal: "Das ist durchaus möglich." Dies sei jedoch "eine Frage der freien Entscheidung der Menschen". Er betonte zugleich: "Jedes Kind ist uns gleich viel wert." Genau dieser Umstand "zwingt zur Indexierung". Ziehe ein Kind aus einem ärmeren EU-Land nach Österreich, würden seine Eltern dann freilich eine höhere Familienbeihilfe erhalten, da sie ja auch höhere Kosten hätten. Warum sie diese Leistung auch ungeschmälert erhalten sollen, wenn der Aufwand geringer ist, wäre jedoch fragwürdig. "Unstrittig ist, dass die Leistung exportpflichtig ist. Die Frage ist nur, ob Österreich den Betrag exportieren muss oder den Wert."
NEOS klagen
Die NEOS werfen der Regierung vor, mit der beschlossenen Anpassung der Familienbeihilfe an die tatsächlichen Lebenshaltungskosten im EU-Ausland "wider jedes bessere Wissen" gegen EU-Recht zu verstoßen. Dies sei "schlicht unverantwortlich", weshalb man eine Beschwerde bei der EU-Kommission einbringen werde, kündigte NEOS-Familiensprecher Michael Bernhard gegenüber der APA an.
Die EU-Kommission prüft schon das österreichische Gesetz, es wird erwartet, dass es zu einem Vertragsverletzungsverfahren kommt. Ein solches wolle man nicht abwarten, "sondern die Rechtslage im Sinne der Betroffenen sofort klären", erklärte Bernhard. Die EU-Kommission müsse durch die Beschwerde prüfen, ob eine Verletzung von EU-Recht vorliegt. Nach Ansicht der NEOS widerspricht die Indexierung der Familienbeihilfe der "Verordnung zur Koordinierung der Systeme der Sozialen Sicherheit" sowie dem Grundprinzip der Arbeitnehmerfreizügigkeit.
Bernhard befürchtet durch die Indexierung teure Auswirkungen auf die Steuerzahler, die Regierung dürfe sich "nicht länger taub stellen".
Seit 1. Jänner wird für in Österreich tätige Arbeitnehmer, deren Kinder im EU-Ausland leben, die Familienbeihilfe "indexiert". Das bedeutet, dass der Betrag den örtlichen Gegebenheiten angepasst wird. In Hochpreis-Ländern wird sie dadurch höher, für Arbeitnehmer aus osteuropäischen Ländern gibt es jedoch teils empfindliche Einbußen. Rund 125.000 sind von einer Kürzung betroffen.