Natürlich, die Brocken waren so groß, dass man sich daran verschlucken konnte. Mehrjähriger Finanzrahmen, Brexit, Westbalkan-Erweiterung, Digitalisierung, Migration - das ist nichts, was man schnell einmal in einem halben Jahr erledigen kann. Doch das junge österreichische Regierungsteam, in dem jeder formal in den Sitzungen zum Ratsvorsitzenden wird, nahm die Herausforderung an. „Ein Europa, das schützt“ lautet das Generalthema der Ratspräsidentschaft und noch ehe man sich fragen konnte, wer vor wem oder was genau zu schützen sei, gab es den Juni-Gipfel und fortan drehte sich alles um Migration und Außengrenzschutz. Sebastian Kurz gelang etwas, was die Regierung heute stolz als „Trendumkehr“ bezeichnet: Er zog die 27 anderen Mitgliedsstaaten in den Bann und alle waren sich einig, dass dem Schlepperunwesen und den Tragödien im Mittelmeer ein Ende zu bereiten sei. Die Schließung der Balkan-Route hatte Kurz zu diesem Zeitpunkt schon auf seine Fahnen geheftet.

Einigkeit: Das ist durchaus eines der Verdienste dieser Präsidentschaft und da wurde sie auch dem Anspruch als „Brückenbauer“ gerecht. Einigkeit der EU-28 in den Beziehungen zu Russland und den Sanktionen, Einigkeit der EU-27 gegenüber Großbritannien, das bis heute versucht, Rest-Europa mit bilateralen Abkommen auseinanderzudividieren, und Einigkeit, als es darum ging, dem amerikanischen Oberzöllner Donald Trump etwas entgegenzusetzen.

Unermüdliche EU-Beamte

Da wir schon beim Positiven sind: Der Beamtenstab, vor allem die Experten der Ständigen Vertretung in Brüssel, zeigte in unermüdlicher und oft wohl auch nervenaufreibender Arbeit im Hintergrund eine hervorragende Performance. Mehr als drei Dutzend erledigte Triloge, über 60 Einigungen im Rat, zuletzt der Durchbruch bei CO2-Grenzwerten für Pkw, Einwegplastik oder Handelspraktiken stehen zu Buche. Für den Finanzrahmen konnte eine prall gefüllte „Verhandlungsbox“ an die rumänischen Nachfolger übergeben werden, was hohe Anerkennung brachte. Beim Brexit hatte Österreich zwar nur eine passive Rolle, bekam aber dennoch Lob von Theresa May. Dass weder Finanz-Transaktionssteuer noch Digitalsteuer auf Schiene kamen, wurde zwar von der Opposition heftig kritisiert, lag aber wohl nicht am Vorsitz - dieser Karren war schon lange zuvor verfahren.

"Österreich geht es nur im innenpolitisches Kleingeld"

Lief es fachlich also prächtig, sorgte der mitunter zu locker wirkende Umgang mit politischer Arbeit vor allem im EU-Parlament - und hier besonders bei Grünen, Liberalen und Sozialdemokraten - für Stirnrunzeln. Da war das Regierungsmitglied, das in Sitzungen zu spät kam oder bei der entscheidenden Abstimmung nicht im Plenum war; da war das Regierungsmitglied, das einen halben Tag lang im Parlament den Namen des Ratspräsidenten fälschlich mit „Task“ aussprach (Donald Tusk ist Pole); da war das Regierungsmitglied, das die eigenen Abgeordneten nicht kannte und einen Österreicher als „deutschen Kollegen“ vorstellte. Kleine, im Grunde lächerliche Fauxpas, die aber in den Augen mancher das ausdrückten, was später der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn in einem „Profil“-Interview formulierte: Die Österreicher nähmen das Ganze doch gar nicht ernst, denen gehe es ja nur um innenpolitisches Kleingeld. Asselborn wurde dafür scharf zurechtgewiesen.

Tatsächlich aber war es die irrlichternde Marschrichtung der österreichischen Innenpolitik, die Zweifel an einem neutralen, übergeordneten Ratsvorsitz aufkommen ließ. Unvergessen etwa der gemeinsame Auftritt von FPÖ-Delegationsleiter Harald Vilimsky mit dem italienischen Rechtspopulisten und Lega-Chef Matteo Salvini in Straßburg oder Vilimskys Pöbelei gegen EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker, dem er vorwarf, am Nato-Gipfel betrunken gewesen zu sein. Immer lag es an ÖVP-Delegationsleiter Othmar Karas, die Dinge zurechtzurücken; der Kanzler blieb ob der Ausritte des Koalitionspartners stumm.

Der vielleicht größte Missgriff

Ungeachtet aller kritischen Stimmen blieb Österreich auch bei der Indexierung der Familienbeihilfe und lässt es, Vorsitz hin oder her, auf ein EuGH-Urteil ankommen. Beim Finanzrahmen hielt man ebenfalls am „Nein“ zu einer Erhöhung der Beitragsleistung fest. Und dann, der vielleicht größte Missgriff: der Ausstieg aus dem mitverhandelten UN-Migrationspakt, mit Folgewirkungen bis zum Sturz der belgischen Regierung. Der Hochzeitstanz von Außenministerin Karin Kneissl mit Wladimir Putin wurde da bloß als Nebensächlichkeit abgetan - in der Innen-, freilich aber nicht in der Außenwahrnehmung.

Zur Irritation trug auch Kanzler Kurz selber bei. Einmal traf er sich mit den Visegrádstaaten und wurde als deren Verbündeter wahrgenommen, dann unterstützte er Horst Seehofer, der auf Konfrontationskurs mit Angela Merkel gegangen war, im Wahlkampf. Kurz selbst verstand die Kritik nicht: So ist das eben, wenn man Brücken baut! Erst gegen Ende des Ratsvorsitzes gelang es ihm, wieder auf Kurs zu kommen: Es gab den Dialog mit George Soros und die Aufnahme der aus Ungarn vertriebenen Uni, es gab die Unterstützung des Rechtsstaatsverfahrens gegen Ungarn und es gab harte Worte gegen das italienische Budget-Fiasko.

Längst sind „Anlande-“ und „Ausschiffungsplattformen“, die noch vor wenigen Monaten als Lösung aller Probleme präsentiert wurden, wieder vom Tisch. Auch die vom Vorsitz angestrebte Aufstockung der Frontex-Leute auf 10.000 Mann bis 2020, die letztlich jenen populistisch geführten Staaten zum Opfer fiel, die sie zuvor lautstark gefordert hatten.

Die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit - so sprach Ex-Kommissar Franz Fischler über das Ratsergebnis. Aber ist das nicht immer so?