Die ukrainische Präsidialverwaltung prognostiziert, dass der russische Angriffskrieg noch bis zu einem halben Jahr dauern kann. "Das kann sich noch zwei bis sechs Monate hinziehen", sagte der ukrainische Präsidentenberater Mychajlo Podoljak im Interview mit dem oppositionellen russischen Online-Portal "Medusa" am Freitagabend. Am Ende hänge es davon ab, wie sich die Stimmung in den Gesellschaften Europas, der Ukraine und Russlands verändere.
Verhandlungen werde es erst geben, wenn sich die Lage auf dem Schlachtfeld ändere und Russland nicht mehr das Gefühl habe, die Bedingungen diktieren zu können, sagte Podoljak. Er warnte dabei einmal mehr vor territorialen Zugeständnissen an Russland. Das werde den Krieg nicht beenden. "Weil es für die Russische Föderation – und das hat Herr (Wladimir) Putin mehrmals gesagt – prinzipiell ist, dass allein die Existenz der ukrainischen Staatlichkeit schädlich ist." Der russische Vormarsch ziele daher weniger auf die Eroberung konkreter Gebiete als auf die Zerstörung der Ukraine an sich.
Podoljak schätzte die russischen Verluste auf insgesamt 80.000 Menschen. Das seien Tote und Verwundete bei der regulären Armee, den Separatisten und der Söldnertruppe "Wagner". Allerdings räumte er ein, dass nach einer für Moskau katastrophalen Anfangsphase des Kriegs mit bis zu 1000 Kriegstoten pro Tag die derzeitigen Verluste der russischen und ukrainischen Truppen "vergleichbar" seien. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte die eigenen Verluste jüngst auf täglich bis zu 100 Tote und 500 Verletzte beziffert.
Kreml hält unbeirrt an Kriegszielen fest
Auch 100 Tage nach Russlands Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar tobt der Krieg in dem Land unvermindert weiter. Der Kreml kündigte am Freitag eine Fortsetzung seiner "militärischen Spezialoperation" bis zum Erreichen aller Ziele an. Russlands Militär meldete weitere Angriffe und die Tötung von Hunderten ukrainischen Soldaten. Auch die ukrainische Führung zeigte sich siegessicher: "Der Sieg wird unser sein", sagte Präsident Wolodymyr Selenskyj am Freitag in einem Video.
"Vor genau 100 Tagen sind wir in einer neuen Realität aufgewacht", sagte der Staatschef. Er beschrieb die Erfahrung des Krieges anhand neuer Wörter, die Ukrainerinnen und Ukrainer hätten lernen müssen. Dazu zählten schreckliche Wörter wie Raketentreffer, Ruinen, Deportation. Ortsnamen seien dazugekommen wie Hostomel, Butscha oder Mariupol, die Namen russischer, ukrainischer und ausländischer Waffensysteme. Aber es gebe auch positive Worte: Wiederaufbau, Rückkehr, Befreiung.
Der russische Präsident Wladimir Putin hatte am 24. Februar den Angriff auf das Nachbarland befohlen. Die russische Armee habe damals den Ruf als zweitstärkste der Welt gehabt, sagte Selenskyj. "Was ist von ihr geblieben?", fragte er: "Kriegsverbrechen, Schande und Hass." Die Ukraine aber habe bestanden, sie bestehe und werde bestehen.
"Es wird schwierig"
Die Ukraine werde sich von den "russischen Barbaren" befreien, sagte Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko in einem Selfie-Video, das er am Freitag in seinem Telegram-Kanal veröffentlichte. "Ja, es wird schwierig. Aber ich glaube, dass jeder von uns diese Prüfungen mit Würde überstehen wird. Denn dies ist ein Krieg des Bösen und des Guten. Und Güte und Gerechtigkeit gewinnen immer noch." Russland führe einen "barbarischen Krieg zur Vernichtung der Ukraine und der Ukrainer".
100 Tage Krieg seien voller blutiger Schlachten, Verluste und Todesfälle, so Klitschko. "Es ist aber auch eine Zeit des Mutes und der Ausdauer", so der frühere Box-Weltmeister. "Wir stehen und kämpfen alle zusammen. Jeder an seinem Platz. Wir bewundern unsere Streitkräfte", sagte er. Die Ukraine sei stärker und erfolgreicher geworden, sagte der 50-Jährige. "Deshalb werden wir gewinnen!"
Die Ukraine hat nach eigener Darstellung etwa ein Fünftel des an die russische Armee verlorenen Gebietes in der umkämpften Stadt Sjewjerodonezk zurückerobert. Dies erklärt der Chef der Region Luhansk, Serhij Hajdaj, im Fernsehen, wie die Nachrichtenagentur Reuters am Freitagabend berichtete. Die Angaben können von unabhängiger Seite nicht überprüft werden.
Die Ukraine will indes nach Worten ihres Chefunterhändlers erst bei einer stärkeren Position im Krieg gegen Russland an den Verhandlungstisch zurückkehren. Für die Unterbrechung gebe es gute Gründe, solange in der Ostukraine schwere Gefechte stattfinden, sagte Dawyd Arachamija am Freitag im ukrainischen Fernsehen. "Die Verhandlungen sollen fortgesetzt werden, wenn unsere Verhandlungsposition gestärkt ist", sagte der Fraktionsvorsitzende der Präsidentenpartei Diener des Volkes. Die Ukraine werde vor allem dadurch stärker, "dass die Waffen, die uns von internationalen Partnern ständig versprochen werden, endlich in ausreichender Menge eintreffen".
Arachamija hatte die Kiewer Delegation in Gesprächen mit Russland in den ersten Wochen des seit 100 Tagen andauernden Krieges geführt. Der Kontakt versandete aber, als nach dem Abzug russischer Soldaten Gräueltaten in Kiewer Vororten wie Butscha bekannt wurden. Präsident Selenskyj will erst wieder verhandeln, wenn russische Truppen sich wenigstens auf die Grenzen von vor dem 24. Februar zurückziehen. Er will auch mit Kremlchef Wladimir Putin direkt sprechen, was Russland bisher ablehnt.
Kreml will komplette Kontrolle über Luhansk und Donezk
Der Kreml betonte am Freitag, er werde die von ihm so bezeichneten "militärischen Spezialoperation" in der Ukraine bis zum Erreichen aller Ziele fortsetzen. Es seien bereits einige Ergebnisse erzielt worden, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow der Agentur Interfax zufolge. Als ein Ziel gilt die komplette Kontrolle über die ukrainischen Gebiete Luhansk und Donezk. Nach Einschätzung britischer Geheimdienste kontrolliert Russland mittlerweile mehr als 90 Prozent der Luhansk-Region. Es sei wahrscheinlich, dass Moskau dort in den kommenden zwei Wochen vollständig die Kontrolle übernehme, hieß es in einem Update des britischen Verteidigungsministeriums.
27 EU-Staaten beschlossen unterdessen das sechste Sanktionspaket gegen Russland, das unter anderem ein weitgehendes Öl-Embargo vorsieht. Durch die am Freitag in Kraft getretenen Sanktionen wird unter anderem die größte russische Bank, die Sberbank, aus dem Finanzkommunikationsnetzwerk Swift ausgeschlossen und es werden mehrere russische Nachrichtensender in der EU verboten. Der wirtschaftlich besonders relevante Boykott gegen Öllieferungen aus Russland zielt darauf ab, im kommenden Jahr auf dem Seeweg kein Öl mehr in die EU zu lassen. Ungarn setzte durch, dass auf Sanktionen gegen das russisch-orthodoxe Kirchenoberhaupt Patriarch Kyrill verzichtet wird.