Zum zweiten Mal musste am Sonntag der Evakuierungsversuch in der ostukrainischen Stadt Mariupol unterbrochen werden. Grund ist: Die Feuerpause wurde offenbar – wie schon am Samstag – nicht eingehalten sein. Statt der geplanten 200.000 meldeten prorussische Separatisten, dass nur 300 Menschen die Stadt verlassen hätten.

Weltweit üben Hilfsorganisationen Kritik: Ärzte ohne Grenzen fordert sichere Fluchtwege und den Zugang zu humanitärer Hilfe. Das Rote Kreuz macht die Konfliktpartner fürs Scheitern der Evakuierung verantwortlich, es fehle eindeutig an einer "detaillierten und funktionierenden Vereinbarung". In Mariupol leben die Menschen nach wie vor in Panik und suchen verzweifelt nach Schutz.

"Hilfskorridore sind hilfreich, aber reichen nicht aus"

"Jede Situation ist anders, aber aufgrund unserer jahrzehntelangen Erfahrung in Kriegssituationen wissen wir, dass einmalige humanitäre Korridore zwar hilfreich sein können, aber nicht ausreichen", sagte Stephen Cornish, Geschäftsführer der Genfer Einsatzzentrale von Ärzte ohne Grenzen. Schon öfter habe man erlebt, wie Zivilisten ermutigt worden seien, "zeitlich begrenzte Evakuierungskorridore zu nützen – doch dann wurden diejenigen, die nicht fliehen konnten oder wollten mit außergewöhnlicher und wahlloser Gewalt konfrontiert, die sich gegen alle richtete, die zurückblieben."

Die ukrainische Journalistin Ekaterina Pereverzeva hält sich momentan in Chernivtsi, im Westen des Landes, auf. Seit sechs Tagen ist jeglicher Kontakt zu Bekannten in Mariupol nicht möglich: "Die Menschen haben keinen Strom, kein Wasser, die Stadt ist vollständig zerstört", erzählt sie in einem Gespräch mit der Kleinen Zeitung.

"Der Krieg ist jetzt unsere Realität"

Sie selbst ist aus Charkiw geflohen. Zum zweiten Mal, wie sie verrät. 2014 lebte sie in der nun von russischen Separatisten dominierten Provinz Donezk. Mit 27 Jahren erlebt sie zum zweiten Mal einen Krieg in ihrem Land: "Damals konnten wir es nicht glauben, als es tatsächlich passiert ist. Aber diesmal ist alles noch viel schlimmer. Ich habe Panikattacken und kämpfe mit starken Ängsten."

In Charkiw schrieb sie für ein Kulturmagazin, "jetzt ist der Krieg unsere Realität". Das Land verlassen will sie derzeit noch nicht. "Wir wollen helfen, so gut es geht, und den Menschen Hoffnung schenken", erzählt Pereverzeva. Ein befreundeter Musiker hat sich mit seinem Klavier hingestellt und einfach gespielt – "das war unglaublich berührend". 

Ihr Arbeitsplatz, das Stadtzentrum, der Großteil von Charkiw ist zerstört. "In drei bis vier Tagen wird es die Stadt nicht mehr geben."