Der Leiter der ukrainischen Delegation für Gespräche mit Russland hofft auf einen humanitären Korridor aus der ostukrainischen Stadt Charkiw am Sonntag. "So Gott will" werde es einen geben, schrieb David Arachamija in der Nacht auf Facebook. Am Samstag waren Evakuierungen aus Mariupol gescheitert, Russland setzte nach kurzer Feuerpause die Angriffe fort. In der Nacht gab es nach ukrainischen Angaben heftige Angriffe rund um Kiew, Charkiw und Mykolajiw.

Der ukrainische Delegationsleiter Arachamija hat auf Facebook einer Frau aus Charkiw geantwortet – die erklärte hatte, sie habe "10 Tage Hölle" erlebt und dringend bat, sich mit Russland auf einen Waffenstillstand zu einigen. Vertreter der Ukraine und Russlands hatten sich zuletzt am Donnerstag im Westen von Weißrussland getroffen und auf humanitäre Korridore verständigt. Neue Verhandlungen sind nach Angaben beider Seiten für kommenden Montag geplant.

Evakuierungen gescheitert

Am Samstag war eine Evakuierung aus der seit sechs Tagen unter Beschuss stehenden Hafenstadt Mariupol gescheitert. Beide Seiten warfen sich vor, gegen die verabredete Feuerpause verstoßen zu haben. Um 16.00 Uhr (MEZ) nahm die russische Armee eigenen Angaben zufolge die Angriffe auf die Großstadt und auf die Stadt Wolnowacha wieder auf.

Humanitäre Blockade

Mariupols Bürgermeister Wadym Boitschenko sprach Samstagabend in einer TV-Sendung von einer "humanitären Blockade". Russische Einheiten hätten alle 15 Stromleitungen in die Stadt ausgeschaltet, man sei bereits seit fünf Tagen ohne Strom. Schon vor Beginn des Krieges sei die Hauptwasserleitung abgetrennt worden, nach fünf Kriegstagen habe man auch die Reservewasserversorgung verloren. Die russische Seite sei sehr methodisch vorgegangen, um die Stadt von jeglicher Versorgung abzuschneiden und so inneren Druck zu erzeugen.

Die humanitäre Lage in Mariupol ist "katastrophal", berichtete auch die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (MSF). Die Lage verschlimmere sich von Tag zu Tag, es sei "unerlässlich", dass die Zivilbevölkerung evakuiert werde, sagte der Notfallkoordinator in der Ukraine, Laurent Ligozat, der Nachrichtenagentur AFP.

Angriff auf Wasserkraftwerk

Nach Ansicht der ukrainischen Armee plant Russland nun, den Damm des Wasserkraftwerks Kaniw einzunehmen. Das teilte der Generalstab der ukrainischen Streitkräfte in einem Bericht in der Nacht zu Sonntag mit. Der Damm liegt rund 150 Kilometer südlich von Kiew am Fluss Dnipro. Bisher haben russische Truppen mehrere Einrichtungen der Energie-Infrastruktur zerstört, angegriffen oder eingenommen, darunter das größte Kernkraftwerk Europas in Saporischschja.

Russische Einheiten unterließen zudem keinen Versuch, in die südwestlichen Außenbezirke der Hauptstadt Kiew einzudringen, heißt es in dem Bericht weiter. In der Stadt wurde in der Nacht zu Sonntag mehrmals Flugalarm ausgelöst. Russische Truppen versuchten zudem, sich der Autobahn von der Kiewer Vorstadt Browary nach Boryspil, wo der internationale Flughafen Kiews liegt, zu nähern. In Richtung Koselets, das rund 70 Kilometer nordöstlich von Kiew liegt, sei die Bewegung von 100 Einheiten an Waffen und anderer militärischer Ausrüstung beobachtet worden, darunter vor allem Raketenwerfer.

Fokus auf drei Städten

Der Hauptfokus der russischen Truppen liege weiter auf eine Umzingelung der Städte Kiew, Charkiw im Osten und Mykolajiw im Süden. Die ukrainische Agentur Unian berichtete am Samstag, in der Region Charkiw seien seit Kriegsbeginn 194 Menschen getötet worden, darunter 126 Zivilisten. Diese Angaben ließen sich nicht unabhängig überprüfen.

In der Region Sumy im Nordosten der Ukraine sind nach Angaben eines lokalen Behördenvertreters am Samstag die Städte Sumy und Lebedin von russischen Truppen beschossen worden. Das teilte der Chef der Gebietsverwaltung von Sumy, Dmytro Schywyzkyj, auf seinem Telegram-Kanal in der Nacht zu Sonntag mit. Die russische Luftwaffe habe zudem in der Kleinstadt Ochtyrka ein Lager für Lebensmittel, Baumaterialien sowie einen Parkplatz zerstört, Heizungen, teils auch Wasser und Strom seien ausgefallen. Bereits am Freitag sei ein Heizkraftwerk zerstört worden, dabei seien fünf Mitarbeiter ums Leben gekommen. Die Angaben konnten nicht unabhängig überprüft werden.

Umgekehrt warfen die Separatisten in Luhansk der ukrainischen Armee vor, binnen 24 Stunden achtmal vier Siedlungen in der selbst ernannten Volksrepublik beschossen zu haben. Dabei seien mindestens zwei Zivilisten verletzt sowie 23 Wohnhäuser, eine Gas- und eine Hochspannungsleitung beschädigt worden, berichtete die russische Agentur Tass mit Berufung auf Vertreter der LNR. Die Angaben konnten nicht unabhängig überprüft werden.

Internationale Bemühungen

Unterdessen gehen die internationalen Bemühungen um ein Ende des russischen Angriffs auf die Ukraine weiter. Israels Ministerpräsident Naftali Bennett reiste am Samstag überraschend nach Moskau und sprach dort – nach Angaben aus Regierungskreisen in Jerusalem – drei Stunden lang mit Präsident Wladimir Putin. Von den Ergebnissen dieser Unterredung berichtete er dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) in einem Gespräch im Ziel. Israel und Deutschland wollen weiter mit "aller Kraft daran arbeiten", den Krieg in der Ukraine so schnell wie möglich zu beenden, hieß es danach von deutscher Seite.

Mastercard und Visa haben sich den Sanktionen gegen Russland angeschlossen und ihre Geschäfte in Russland ausgesetzt. Russische Kreditkarten würden nicht mehr unterstützt und im Ausland nicht mehr funktionieren, teilten die US-Konzerne in getrennten Erklärungen am Samstagabend mit.