Am polnischen-ukrainischen Grenzübergang Medyka reißt der Flüchtlingsstrom nicht ab. Tausende ukrainische Frauen und Kinder warten stundenlang auf der ukrainischen Seite in der eisigen Kälte. Die Autokolonne ist Hunderte Meter lang. Die meisten Menschen kommen aber zu Fuß die letzten Kilometer über die Grenze. Sie haben kaum Gepäck dabei. Einige ziehen Rollkoffer, viele haben nur einen kleinen Rucksack am Rücken und rund die Hälfte der Ankommenden sind Kinder.
Viele kommen völlig erschöpft nach tagelanger Flucht vor Bomben und Kämpfen an der Grenze an, wie die junge Alina. Im Arm trägt sie ein sechs Monate altes Baby im Schneeanzug. Mit ihrer 15-jährigen Tochter ist sie aus der Region Dnipropetrowsk im Osten der Ukraine vor Bombardierung geflohen. Drei Tage war sie auf der Flucht, erzählt sie. Die letzte Nacht hat sie in einem Krankenhaus in Lwiw verbracht, nachdem sie vor Erschöpfung zusammengebrochen ist. Ihr Baby ist zudem krank, sagt sie. In der Früh wurde sie vom Spital von Helfern mit einem Auto an die Grenze gebracht.
Nun wartet sie mit Tausenden anderen vor der ukrainischen Ausreisekontrolle. Sie will nach Deutschland weiter, weil sie dort Bekannte hat. Wie sie dort hinkommen soll, weiß die junge Frau nicht. Manche anderen Frauen und Kinder werden von ihren Männern auf dem kilometerlangen Fußmarsch bis zur Grenze begleitet. "Ich bringe meinen Sohn, meine Frau und Schwiegermutter zur Grenze", von wo sie nach Italien weiter wollen, sagt ein junger Mann. Er trägt deren einzige Reisetasche und stützt die alte Frau, die nur schwer gehen kann. Er selbst wird an der Grenze wieder kehrtmachen, um in den Kampf zu ziehen, sagt der Mann.
Im Laufe des Tages wird die Schlange vor der Grenze immer länger. Täglich kommen rund 100.000 Menschen über die rund 500 Kilometer lange Grenze nach Polen, die meisten über den größten Grenzübergang Medyka. Bis Samstag waren es nach Angaben der polnischen Behörden insgesamt mehr als 827.000. Millionen weitere werden in den kommenden Tagen und Wochen erwartet. Die Flüchtenden sind fast ausschließlich Frauen und Kinder. Die Stimmung ist ruhig, geduldig warten die Menschen, bis sie an der Reihe sind. Manche wirken gelöst und erleichtert, wenn sie den Grenzposten passiert haben. Anderen ist die Angst noch ins Gesicht geschrieben. Viele Kinder wirken erschöpft und verängstigt. Auch Hunde und Katzen in Trageboxen haben viele mitgenommen, sonst haben sie kaum Gepäck.
Auf der polnischen Seite werden die Flüchtlinge von dutzenden freiwilligen Helfern empfangen. Sie erhalten warmes Essen und Kaffee, auch Hygieneartikel und Kleider werden verteilt. Feuerwehrbusse und Privatpersonen, die Mitfahrgelegenheit in ihren Pkws anbieten, bringen die Menschen gruppenweise weiter in nahegelegene provisorische Aufnahmezentren.
Die meisten Helfer sind Freiwillige aus Polen, aber viele auch internationale NGOs und spontane Hilfsaktivisten. Am kleinen Grenzübergang Hrebenne etwas weiter nördlich wartet Wadim auf eine Gruppe von Frauen und Kinder. Der gebürtige Ukrainer lebt seit 30 Jahren in Hagen, Deutschland. "Nachdem der Krieg ausgebrochen ist, konnte ich drei Nächte nicht schlafen", erzählt er. Dann beschloss er zu helfen, organisierte gemeinsam mit einem deutschen Freund einen Bus samt Fahrer und fuhr kurzerhand an die polnisch-ukrainische Grenze. Er ist in Kontakt mit einem Bekannten in der Ukraine, der Transporte von Flüchtlingen zur Grenze organisiert. Sein Arbeitgeber stellte den Arbeiter in einem Stahlwerk dafür frei.
Seit Stunden wartet Wadim nun an der Grenze in der eisigen Kälte auf die 25 bis 30 Frauen und Kinder, die zu Fuß auf der anderen Seite herumirren. Der ukrainische Busfahrer durfte nicht über die Grenze, weil Männer im Krieg nicht aus der Ukraine ausreisen dürfen.
Ob er auch darüber nachgedacht hat, in der Ukraine zu kämpfen? "Ich bin immer noch am überlegen und streite jeden Tag deshalb mit meiner Frau", sagt der Mittfünfziger. Inzwischen hilft er Kriegsflüchtlingen. Sobald die Frauen und Kinder ankommen, wird er sie nach Deutschland bringen. Unterkünfte für sie sind bereits organisiert.
In die andere Richtung auf die ukrainische Seite ist fast niemand unterwegs. In einem Zelt wartet ein ukrainischer Militär auf mögliche freiwillige Kämpfer. Insgesamt hätten sich einige tausend Männer in den vergangenen Tagen seit Kriegsbeginn gemeldet, sagt er. Die meisten kamen aus Polen, aber auch Männer aus Deutschland und den Niederlanden würden sich melden, um an der Seite der Ukraine zu kämpfen.