ARMIN THURNHER: Wer das Gewalttätige in dieser pazifistischen Parole nicht zu hören vermag, der ist in der Tat naiv. Nie wieder, das bedeutet, die Möglichkeit einer Wiederholung aus der Welt zu schaffen. Vielmehr ist leider, was einmal geschah, immer wieder möglich. Die Vorstellung, dass wir erst jetzt „wieder“ einen Krieg erleben, sieht ja ab von der Tatsache, dass die Welt sich permanent in einem Krieg befindet, und nicht einmal in einem Kalten Krieg. Dass der europäische Ausnahmezustand eines beinahe ewigen, fast 80-jährigen Friedens auch um den Preis von Kriegen anderswo und mit teils ungeeigneten Mitteln erkauft wurde, sollten wir im Moment des verbrecherischen Überfalls von Putin auf die Ukraine nicht vergessen.
MICHAEL FLEISCHHACKER: Nie wieder Krieg hieße wohl tatsächlich: nie wieder Mensch. Es gab und gibt Menschen wie Ulrich Horstmann, die das für die ökologische Lösung halten, ich gehöre nicht zu ihnen, ich nehme an, Sie auch nicht, lieber Thurnher. Aber sagen Sie mir: Wie kommen Sie auf 80 Jahre? Hört Europa für Sie bei Spielfeld auf? Ich habe den letzten europäischen Krieg recht hautnah erlebt, vielleicht hatte ich deshalb auch nie die Idee vom ewigen Frieden. Dennoch würden mich zwei Dinge interessieren: Worin besteht der kausale Zusammenhang zwischen dem Frieden hier und dem Krieg anderswo, und was waren die „ungeeigneten Mittel“, mit denen der Friede in Europa erkauft wurde?
THURNHER: Sie haben recht. Ich habe sehr unpräzise Europa mit der Europäischen Union (in der Jugoslawien teilweise aufgegangen ist) gleichgesetzt, was – wie ich fürchte – der gängigen Mentalität entspricht. Eine Taxifahrt mit einem Mitbürger serbischer Herkunft kann einen recht geschwind aufklären. Ehe ich zu Ihren Fragen komme, möchte ich Ihre Voraussetzung problematisieren. „Der Mensch“ oder der griechisch-römisch kultivierte Mensch ist in der Tat kriegerisch geprägt. Aber zugleich hat er den Impuls eingepflanzt, diese Prägung zu überwinden – sprich, zu sublimieren – und diese Mühe als das Ziel seiner Selbstzivilisierung zu begreifen. Frage zwei und drei heben wir uns derweil noch auf.
FLEISCHHACKER: Ich bin kein Kulturanthropologe, aber mir scheint es so zu sein: Die Zivilisation hat den Krieg hervorgebracht, und das Hauptprojekt der Zivilisation besteht zugleich darin, ihn hinter sich zu lassen. Es wird nicht gelingen.
THURNHER: Wie Figura zeigt. Aber wir müssen uns diesem Hauptprojekt widmen. Unbedingt. Das bringt mich zu den offenen Fragen, zu den ungenügenden Mitteln, mit denen die EU konstruiert wurde und zu den Kriegen anderswo. Die Idee, mit einer dominierenden Wirtschaft und mit Wirtschaftsverflechtungen eine Art unauflöslichen Friedenszusammenhang zu schaffen, misslang. Oder sie gelang nur, weil sich die EU unter den Schutzmantel der Nato begab, und damit unter den der USA. Es ist ja eine absurde Pointe, dass Putin nun zustande brachte, was Trump vergeblich zu erreichen versuchte: die schockartige Erhöhung der Verteidigungsbudgets europäischer Nato-Länder, zumindest rhetorisch. Die Kriege der USA waren damit Kriege der EU.
FLEISCHHACKER: Europa hat die sogenannte „Friedensdividende“ nach dem Ende des Kalten Krieges nur konsumieren können, indem es seine Sicherheitskosten an die Vereinigten Staaten ausgelagert und mit dem eingesparten Geld die Sozialsysteme weiterfinanziert hat. Dass mit dem Ende des Kalten Krieges der böse Neoliberalismus an die Macht kam und den Sozialstaat plattmachte, ist ein Märchen, aber das wissen Sie ja. Will heißen: Unser Sozialstaat ist durch die militärische Abhängigkeit von den USA erkauft, eine schöne Pointe, finde ich. Über die exportierten Kriege haben Sie noch nichts gesagt.
THURNHER: Doch, Europa brauchte sie ja nicht zu exportieren, „wir“ waren (fast) immer dabei. Mit Lücken in der Koalition der Willigen im Irak. Am Hindukusch ging’s wieder besser. Ihr Argument mit dem Sozialstaat ist demagogisch, denn die USA hatten selbst Ansätze zu einem solchen (vom New Deal bis zur Great Society), die vom Neoliberalismus abgewürgt wurden. Der hat seine Wurzeln nicht im Kalten, sondern im heißen Krieg, wie Sie wissen (Hayeks „Der Weg zur Knechtschaft“ erschien 1944).
FLEISCHHACKER: Ich glaube, wir müssen nicht im Angesicht des heutigen Krieges unsere ideologischen Scheingefechte von gestern austragen. Klar scheint zu sein, dass wir gerade in eine Phase eingetreten sind, in der wir als Europäer die militärische Komponente internationaler Politik wieder ernst nehmen müssen. Und vielleicht müssen wir auch die Damen und Herren von den Grünen darauf aufmerksam machen, dass es keine gute Idee gewesen ist, die Atomkraft so schnell abzuschreiben, denn es wird sich nicht ganz ausgehen, wenn man Nord Stream 2 durch einen Windpark bei Cuxhaven ersetzt.
THURNHER: Ich möchte das Wort Scheingefecht gern zurückweisen. Wir führen keine Gefechte, wir streiten, mit Argumenten (meistens), nicht mit Waffen. Ich teile Herfried Münklers Ansicht, im postheroischen Zeitalter sei paradoxerweise die Verteidigung Europas vielleicht die einzige Chance zur Ausbildung von so etwas wie europäischer Identität. Wir müssen über europäische Streitkräfte diskutieren, gewiss. Aber wie vieles andere geht das momentan zu schnell und unüberlegt vor sich. Die Renaissance der Atomkraft ist unter dem Aspekt der Verteidigung Wahnsinn, und die Substitution russischer Kohle durch australische, wie Polen das plant, ebenso verrückt wie
gefracktes Flüssiggas aus den USA.
FLEISCHHACKER: Alles in der Welt nimmt unter Druck Form an, vielleicht auch Europa. Aber ich stimme Ihnen zu: Die Spontanaufnahme der Ukraine in die Europäische Union wird nicht stattfinden, würde aber mehr Probleme schaffen, als sie lösen könnte. Überschießende Symbolhandlungen unter dem Eindruck des Unerwarteten werden oft genug zu langfristigen Problemen. Mittelfristig mache ich mir allerdings mehr Sorgen um Russland als um Europa.
THURNHER: Das stimmt. Putins Untat kann auch andere Folgen haben. Ein langer Guerillakrieg kann das Land so schwächen, dass Militär und Geheimdienst von Putin abrücken. Das wäre dann sein politisches Ende. Davon sind wir allerdings weit entfernt. Derweil bleiben wir in unserem Dilemma befangen, den Krieg zu verabscheuen und ihn doch als den Vater aller Veränderung erkennen zu müssen. Als Publizist versuche ich, denen beizustehen, die ihn zähmen wollen.
FLEISCHHACKER: Ich versuche, denen beizustehen, die Informationen aus möglichst vielen Perspektiven brauchen, um sich ein Bild zu machen, aber das publizistische Fass machen wir beim nächsten Mal auf. Der Krieg ist schrecklich und unerbittlich, mehr weiß ich nicht.