Ahmet Davutoglu ist ein besonnener und meist gut gelaunter Mann. Umso überraschter war die türkische Öffentlichkeit, als sie gestern ihren Außenminister in der ungewohnten Rolle des Scharfmachers erlebte. Entweder Israel entschuldige sich für den Angriff seiner Soldaten auf die türkischen Schiffe mit Hilfsgütern für den Gazastreifen Ende Mai, sagte Davutoglu, "oder die Beziehungen werden abgebrochen". Damit treibt der Streit zwischen den beiden traditionellen Verbündeten Türkei und Israel auf eine neue Eskalation zu. Davutoglus israelischer Kollege Avigdor Lieberman erklärte postwendend, sein Land denke nicht daran, sich zu entschuldigen. Ein israelischer Regierungssprecher sagte, das Verhalten der Türkei wecke den Verdacht, dass Ankara "eine andere Agenda" verfolge.

"Das ist doch verrückt"

Mehr musste der Sprecher nicht sagen, denn jeder wusste, was mit der "anderen Agenda" gemeint war. Die Dauerkrise mit Israel und das Nein zu UN-Sanktionen gegen den Iran haben die Debatte über die Ausrichtung der Türkei neu angeheizt. Driftet die Türkei unter der religiösen Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan vom Westen weg, um sich verstärkt der islamischen Welt anzuschließen? Türkische Diplomaten widersprechen dieser These heftig. "Das ist doch verrückt", sagt ein Spitzenmann aus dem Ankaraner Außenamt. "Die Türkei hat sich überhaupt nicht verändert." Was Israel betreffe, habe niemand ein Interesse daran, "die Beziehungen an die Wand zu fahren".

Was sich geändert hat, ist die Art, wie die Türken die Welt sehen. Unter Davutoglu hat das Land begonnen, sich als eigenes Machtzentrum zu verstehen, als regionaler Anführer, der aus einer Position der wirtschaftlichen Stärke und politischen Stabilität heraushelfen kann, Krisen und Streit in seiner Weltgegend zu schlichten.

Machtanspruch in der Region

Aus Ankaraner Sicht bedeutet das keineswegs einen Verzicht auf die EU-Kandidatur, wohl aber eine Außenpolitik, die eigenen Interessen folgt, und nicht nur denen Europas und den USA. Türkische Diplomaten können nicht so recht verstehen, warum der Westen eine solche Angst vor einer Hinwendung der Türkei zum Orient hat. Denn ihrem Land geht es nicht um Religion. Es geht um Macht. Die Türkei will zur Führungsnation ihrer Region werden, nicht zur Anführerin der islamischen Welt.

Deshalb bemüht sich Erdogan nicht nur um gute Beziehungen zu Syrien und dem Iran, sondern auch um eine Aussöhnung mit dem christlichen Armenien und dem christlichen Griechenland. Das Land vermittelt derzeit ebenso zwischen Serbien und Bosnien wie zwischen Afghanistan und Pakistan. Die außenpolitische Vision von Davutoglum stößt hin und wieder auf klare Grenzen, und zwar auf die Grenzen der Innenpolitik.

Sich nur nicht "zu weich" zeigen

Der Fall Israel ist das beste Beispiel dafür. In der Türkei ist das Leid der Menschen im Gaza-Streifen ein hoch emotionales Thema, laut Umfragen packt die Erdogan-Regierung Israel nicht zu rauh an, sondern noch viel zu sanft. Eine solche Lage birgt die Gefahr, dass außenpolitische Interessen aus Sorge um die innenpolitische Popularität aus dem Blick geraten. Grundsätzlich ist Davutoglu an stabilen Beziehungen zu Israel orientiert - denn nur als Staat, der gute Beziehungen zu allen Ländern in seiner Nachbarschaft hat, kann die Türkei ihre angestrebte Rolle als regionale Ordnungsmacht spielen. Dass der Außenminister trotzdem derart den Ton gegenüber Israel verschärft, zeigt, dass Davutoglu derzeit vor allem befürchtet, vor heimischem Publikum als zu "weich" dazustehen.