Ofer Baider ist eigentlich Bauer. In seinen Gewächshäusern im israelischen Dorf Nativ Haassara zieht er Samen von Tomaten und Paprika heran. Aber das sieht man ihm jetzt kaum an: Mit anderen Nachbarn schiebt er seit Wochen freiwillig rund um die Uhr Wache. Die Maschinenpistole im Anschlag ist er allzeit bereit, sein Dorf vor dem Überfall eines schwer bewaffneten Hamas-Selbstmordkommandos zu verteidigen. "Die könnten jeden Augenblick irgendwo hier direkt vor mir aus dem Boden sprießen", so Baider. Das meint er wörtlich. Denn Nativ Haassara ist nur 300 Meter von der Grenze zum Gazastreifen entfernt. Vergangene Woche gelang es zehn Hamaskämpfern, durch einen Tunnel aus Gaza nach Israel einzudringen. Sie traten nur drei Kilometer von Baiders Haus entfernt an die Oberfläche. Die Armee sucht inzwischen nach einem weiteren Tunnel, der theoretisch in jedem Vorgarten hier enden könnte: "Alle sind vom Ausmaß und der Zahl dieser Tunnel überrascht", sagt Baider.

Die Tunnel der Hamas - kein Faktor ist bedeutender für den jetzigen Krieg in Gaza als sie. Sie waren Anlass für den Ausbruch des Krieges, eine der Hauptgründe, weshalb es im Luftkrieg so viele Tote gab, die Begründung für die Bodenoffensive und eines der Motive, warum es mit dem Waffenstillstand so lange dauert.

Wie eine Industrie

"Tunnel waren in Gaza für uns immer ein Problem", sagt Nitzan Nuriel, Brigadegeneral a.D. Schon in den achtziger Jahren gruben Palästinenser in Rafah Tunnel unter der Grenze nach Ägypten, hauptsächlich, um Waren aus dem Billigland nach Israel zu schmuggeln. Terrororganisationen machten sich den unkontrollierten Zugang zunutze, um Waffen in und Aktivisten aus dem Landstrich zu schmuggeln. Israel versuchte alles, um gegen die Tunnel vorzugehen.

Tweets aus der Todeszone

Nach Israels Rückzug aus Gaza und dem Putsch der Hamas 2007 wurde aus den Tunneln eine regelrechte Industrie. Mehr als 2000 unterirdische Gänge verwandelten die 14,7 Kilometer lange Grenze bei Rafah in einen Schweizer Käse. Sie wurden zur wichtigsten Einnahmequelle der Hamas, die für den Betrieb der Tunnel eine Steuer erhob. Aus jedem Einsturz lernte man dazu. Heute sind die Tunnel ausgefeilte Konstruktionen, mit Beton ausgekleidet, belüftet, beleuchtet, mit Schienen und Karren, die auf den Schmuggel bestimmter Waren abgestimmt sind: Es gab Tunnel für Vieh, für Benzin, für Personen, und für Waffen. Manche waren so groß, dass ganze Autos so nach Gaza gelangten. Und der Löwe für den Zoo von Gaza.

Auf den jetzigen Waffengang hatten sich die Islamisten mit anderen Tunneln seit geraumer Zeit vorbereitet: "Es gibt zwei Gazastreifen", sagt Nuriel. "Einen über der Erde, und einen zweiten" den Israels Medien inzwischen den "unterirdischen Gazastreifen" nennen. "Wir haben die Zahl der Tunnel in Gaza eindeutig unterschätzt", gibt ein hochrangiger Berater des Anti-Terror Stabs zu.

Kinderarbeit im Stollen

Unter jedem Wohnort befindet sich eine umfangreiches Tunnelsystem: "Die Hamas hat Gaza in mehrere Abschnitte unterteilt", erklärte ein Ex-General im Gespräch mit unserer Zeitung. "Für jeden Abschnitt ist ein Brigadegeneral verantwortlich, der 400 bis 600 Kämpfer befehligt." Seine Aufgabe: Hinterhalte legen, Kommandobunker und Depots bauen. Doch am meisten wollten die Hamas-Kommandeure Angriffstunnel nach Israel: "Das bringt Prestige", sagt der israelische Ex-General. Die würden jedoch nicht von Kämpfern gegraben: "Das ist ein Beruf, sogar ziemlich gut bezahlt, für die Verhältnisse in Gaza", sagt der Experte. Ganze Familien leben davon, Gaza für die Hamas zu untertunneln, auch viele Minderjährige. Laut einer Studie im "Journal for Palestine Studies" kamen dabei mindestens 160 Kinder ums Leben.

Hundert oder mehr Kilometer lang ist dieses Tunnelsystem heute. Es kostete die Hamas bis zu 800 Millionen US-Dollar. Alles ist hier darauf eingerichtet, um sich monatelang unter der Erde aufhalten zu können. "Sie haben dort Strom, Wasser, Waffen, Uniformen", sagt ein Offizier, der laut Armeereglement anonym bleiben muss, unserer Zeitung. "Ein Hamas-Aktivist kann als unbewaffneter Zivilist irgendwo in Gaza in einen Tunnel steigen, und als vollbewaffneter Kämpfer irgendwann irgendwo plötzlich wieder auftauchen, um uns anzugreifen", so der Offizier.

Das sei einer der Hauptgründe, weshalb so viele Zivilisten in Gaza getroffen werden: Unter vielen Häusern in Gaza befinden sich militärische Anlagen, ohne dass die Bewohner davon irgendetwas wissen. Direkt neben Häusern, ja selbst in UNO-Kliniken sind Eingänge zu Tunneln, von denen aus man Raketen auf Israel abschießt.

Wenn diese Bunker inmitten von Städten bombardiert werden, kommen Unschuldige zu Schaden. "Deswegen mussten wir einmarschieren", meint Armeesprecher Major Arye Shalicar. "Wir hätten einen Großteil des Tunnelsystems aus der Luft zerstören können, mit tonnenschweren Bomben, aber dann wäre von Gaza nichts übriggeblieben."

Hamas arbeitet ohne Pause

Doch die größte Bedrohung sieht Israel in den Angriffstunneln der Hamas - bis zu zwei Kilometer lange Stollen, die in 30 Meter Tiefe von Gaza nach Israel führen. Schätzungsweise 60.000 Tonnen Beton, ein Teil davon wurde von Israel für humanitäre Zwecke geliefert, verbaute die Hamas so in der Erde. "Die meisten Angriffstunnel entstanden scheinbar erst nach November 2012", sagt Nuriel. "Das bedeutet, dass die Hamas pausenlos an ihnen arbeitete." Denn um nicht von israelischen Geophonen, also Mikrophonen, die in die Erde hineinhören, entdeckt zu werden, werden sie leise von Hand gebuddelt. Die Tunnel werden nur zu 98 Prozent fertiggestellt. Die letzten Meter bleiben versiegelt, um unentdeckt zu bleiben. Erst wenn die Kämpfer der Hamas am anderen Ende hinaus wollen, dringen sie ganz bis zur Oberfläche vor.

Jetzt will Netanjahu "alles tun, um unsere Bevölkerung vor diesen Tunneln zu schützen." Bis sie nicht zerstört sind, will Israel nicht aus Gaza abziehen. Denn die Stollen sind ein strategisches Problem. Insgesamt 31 solcher Tunnel wurden bereits entdeckt, zig weitere befinden sich wahrscheinlich entlang der 55 Kilometer langen Grenze zwischen Israel und Gaza. Seitdem dieser Umstand bekannt wurde, leben die Bewohner der Dörfer rund um Gaza in Angst und Schrecken.